Dieses Jahr wird es wohl die unglückliche Präsidentin treffen, wenn am Ostersamstag der Judas gedroschen wird.
Es ist ein archaisches, teils grausames Ritual, das mit den spanischen und portugiesischen Einwanderern über den Atlantik gekommen ist und die Jahrhunderte in Brasilien überdauert hat. Brasilien, das Land mit der größten katholischen Bevölkerung der Welt, in dem sich 140 Millionen Menschen, rund 70 Prozent, zu Rom bekennen.
Auch wenn viele dies nur noch formell tun, so spielt Ostern weiterhin eine Schlüsselrolle. Und so wie in allen Einwandergesellschaften Lateinamerikas haben auch in Brasilien uralte Bräuche überlebt, die uns Europäern heute fremd erscheinen.
Dabei beginnt Ostern ganz harmlos am Gründonnerstag, wenn die Priester den Gläubigen die Füße waschen, so wie einst Jesus seinen Jüngern vor dem Abendmahl. Am Karfreitag, den man hier „Freitag des Leidenschaft“ nennt, wird bei streng Gläubigen gefastet und geruht, nicht mal das Haus darf gekehrt werden. Erst am Abend isst man Fisch, niemals Fleisch. Es folgen Messen und Prozessionen, um die Kreuzigung des Heilands zu betrauern, und in manchen Dörfern endet der Tag mit der Verbrennung eines Holzkreuzes. Das mag man gruselig finden, Stichwort Ku Klux Klan, doch soll so die Schuld von den Gläubigen genommen werden.
Am „Halleluja-Samstag“ gibt es dann eine Gaudi, die leicht makabre Züge annehmen kann und von der sich immer mehr Brasilianer abwenden, insbesondere gebildetere und wohlhabendere. In vielen urbanen Gegenden ist sie ausgestorben, doch in den Favelas, in Kleinstädten und auf dem Land besteht der Brauch ungebrochen fort.
Der Judas wird gedroschen („malhar o Judas“), mancherorts sagt man auch: „Judas aufhängen“ oder „Judas verbrennen“. Doch ganz gleich, es geht um dasselbe. Judas Iskariot, der Verräter des Jesus, wird symbolisch seiner Strafe zugeführt, und der Scharfrichter ist das Volk.
Wie das funktioniert? Jeder, der sich berufen fühlt, bastelt mit Freunden, Nachbarn und Bekannten eine Puppe: Alte Kleider werden mit Stofffetzen, Stroh, Schaumstoff oder Gips gefüllt. Mit einem Strick wird die Puppe dann noch in der Nacht an der nächstbesten Laterne, einem Baum oder Mauervorsprung aufgeknüpft.
Der heikle Part ist, dass das Volk gar kein Interesse mehr am wirklichen Judas hat, der sich ja selbst ums Leben brachte, sondern es wählt sich seine Verräter selbst. Der „Verräter“, das kann jeder sein, den man nicht mag. Ein schlecht gelittener Nachbar, ein Krimineller, das brasilianische Staatsoberhaupt. Der Name der Person wird mit einem Schild für alle sichtbar an die Puppe geheftet.
Nun kommt man zusammen und drischt mit Stöcken so lange auf die Puppe ein, bis sie abfällt oder aufreißt. Doch damit nicht genug, am Boden wird weiter auf sie eingetreten und zu guter Letzt Feuer an sie gelegt. Es kommt auch vor, dass der „Judas“ mit Feuerwerkskörpern gesprengt wird. In der Gemeinde Itu im Bundesstaat Sao Paulo ist es Brauch geworden, ihn mit Sprengstoff auf dem Dorfplatz in die Luft zu jagen – unter Aufsicht der Behörden und den Blicken tausender Schaulustiger
Das ganze ist also eine Art Lynchmord, der recht zweifelhafte Züge annehmen kann. Eine Bekannte berichtet von Kindern, die einen unbeliebten Klassenkameraden zum Judas machten. Eine andere erzählt von der Angst am Samstag vor die Tür zu treten und eine Puppe mit dem eigenen Namen baumeln zu sehen.
In diesem Jahr, so viel ist aber jetzt schon klar, wird Präsidentin Dilma Rousseff häufiges Ziel des Volkszorns sein. Rousseff hat katastrophale Beliebtheitswerte, die Wirtschaft stagniert, ein Korruptionsskandal erschüttert das Land, die Medien feuern ununterbrochen, sie scheint für jedes Übel verantwortlich zu sein.
Zur Herkunft des Judasdreschens gibt es heute verschiedene Theorien. Manche Historiker wollen darin Reste der mittelalterliche Judenverfolgung wiedererkennen. Andere gehen in vorchristliche Zeiten zurück: Es gehe um das Vertreiben böser Geister zu Beginn der Aussaat.
Am Sonntag wenden sich die Brasilianer dann übrigens wieder Jesus zu, wenn sie in oft überfüllten Kirchen singend und tief bewegt die Auferstehung feiern.