In einer schwülen Februarnacht klettert Rike Jurth auf einen umgebauten Lkw und stellt sich in die Mitte einer von Lautsprechermonitoren eingekreisten Plattform. Unter ihr tosen tausende Menschen, nehmen vor und hinter dem Wagen Aufstellung, dirigiert von hektischen Choreographen.
Die 27-jährige Jurth öffnet ein Köfferchen, entnimmt eine Geige, spielt ein paar Töne, stimmt ihr Instrument mit einem Gitarristen, der dazu gekommen ist. Von unten ruft und winkt ihr eine aufgekratzte Familie zu. „Gibt’s ja gar nicht“, sagt Jurth, „ich habe Fans. Als Violinistin und Ausländerin! Beim Karneval! In Rio! Der Hammer!“
Dann, es ist kurz nach 22 Uhr, beginnen wie auf ein Signal Hunderte Perkussionisten vor dem Wagen ihre tiefen Trommeln, knallenden Tamburins und schellenden Rasseln zu schlagen. Kurz darauf steigen drei Ukulele-Spieler sowie der Gitarrist auf dem Bandwagen ein und fünf füllige Männer singen einen Samba in die Mikrofone. Zeit für Rike Jurth, ihre Geige unters Kinn zu klemmen und einige Melodien einzustreuen. Um den Wagen herum wogt nun die Menge, Tausenden Arme fliegen in die Luft, die Tänzerinnen hinter dem Wagen kreisen lachend mit den Becken. Und alle singen lauthals mit. Ein ohrenbetäubendes, mitreißendes Spektakel.
Es ist Straßenprobe bei Rio de Janeiros Sambaschule Vila Isabel, dreimaliger Sieger des großen Umzugs im Sambodrom, renommiert und beliebt wegen ihrer poetisch-schönen Präsentationen. Am kommenden Montag um 0 Uhr 15 wird die Schule erneut mit prächtig geschmückten Wagen und üppig verkleideten Tänzern vor 90000 frenetischen Zuschauern ins Sambodrom einziehen – und eine Weltneuheit präsentieren: eine Geige hoch oben auf dem Musikwagen, gespielt von der Berlinerin Rike Jurth.
„Der Karneval ist eigentlich eine extrem traditionelle Angelegenheit“, sagt die Pankowerin nach der einstündigen Probe auf dem Weg zum Bus, immer wieder begrüßt und beglückwünscht von euphorischen Karnevalisten. „Neuerungen gibt es selten, meine Geige ist eine kleine Revolution. Mal sehen wie ich damit bei den Zuschauern und der Jury ankomme.“
Wenn Rike Jurth beschreiben soll, was im letzten halben Jahr passiert ist, dann fällt ihr der Begriff „Märchen“ ein. Die Studentin an der Hochschule für Musik in Weimar war mit einem DAAD-Stipendium nach Rio gekommen, um für ihren Doktor in Musikethnologie zu recherchieren. Thema: Der Entstehungsprozess eines Samba Enredo, eines sogenannten Themensambas. Das ist der Song, den jede Sambaschule eigens für ihren Umzug komponieren lässt. Er spielt eine große Rolle bei der Bewertung durch die Jury, muss textlich das Thema des Umzugs wiedergeben und für Stimmung sorgen. Er dauert nur rund 120 Sekunden, wird aber während der 82 Minuten, die jeder der zwölf großen Schulen im Sambodrom zur Verfügung stehen, in einer Dauerschleife live gespielt.
Es war Zufall, dass Jurth ihre Forschung bei den Komponisten von Vila Isabel begann – und auch dass die Direktion der Schule dieses Jahr ein Thema auswählte, das mit klassischer Musik zu tun hat: das Leben des brasilianischen Dirigenten Isaac Karabtchevsky, der in Rio wegen seines sozialen Engagements bekannt ist.
Also fragten einige der Musiker bei ihren streng geheimen Kompositionsrunden, zu denen Jurth zugelassen worden war, ob sie nicht etwas spielen könne. Als sie dann auch einige Male während der Samba-Auswahlwettbewerbe im Vereinsheim von Vila Isabel auf der Bühne stand, wurde sie schließlich vom Präsidenten der Schule gebeten, Mitglied der Musikgruppe zu werden und beim großen Umzug dabei zu sein. „Ich glaube, es ist eine Premiere, dass eine Frau auf dem großen Musikwagen ein Instrument spielt“, sagt Jurth. Die Welt der Samba-Musiker sei doch stark von Männern dominiert. Allerdings glaubt sie, dass sie als Deutsche nicht als Konkurrenz betrachtet werde, sondern als Kuriosum. „Eine brasilianische Violinistin hätte wohl keine Chance.“
Ein paar Tage nach der Straßenprobe sitzt Rike Jurth in einem Imbiss in der der Samba-Stadt, der Cidade de Samba, wo alle großen Schulen ihre Büros und Werkstätten in Hangar ähnlichen Gebäuden haben. Die Aufregung kurz vor dem Umzug ist spürbar. Tänzer studieren Choreographien vor den Hallen ein, in denen an üppigen Themenwagen geschweißt, geklebt und gehämmert wird. In den Werkstätten darüber werden unter Hochdruck die letzten Kostüme geschneidert. Jede der Schulen bietet rund 500 Leuten Arbeit, es sind im Grunde kleine Unternehmen. Und es geht um viel Geld.
„Wenn man den Umzug im Sambodrom gewinnen will, muss man schon drei Millionen Euro in seine Präsentation stecken“, sagt Jurth. Aber nur der Sieger erhält eine Prämie. Die Schulen suchen sich daher Sponsoren, was zur Kommerzialisierung des Karnevals geführt habe. Häufig steuern auch die Präsidenten der Vereine große Summen bei, die – es ist ein offenes Geheimnis – aus mafiösen Geschäften stammen. Ein abschreckendes Beispiel bietet dieses Jahr die erfolgreichste Sambaschule Beija-Flor (Kolibri). Sie lässt ihren Umzug mit dem Thema Afrika von einem der schlimmsten Diktatoren des Kontinents bezahlen. Teodoro Obiang aus Äquatorialguinea hat umgerechnet drei Millionen Euro beigesteuert, eine Rekordsumme.
Doch nicht nur deswegen sei die Wahrnehmung des Karnevals in Europa völlig verzerrt, findet Jurth. Dort sehe man nur den Sex, die halbnackten Tänzerinnen. In Wirklichkeit sei das, was im Sambodrom geschehe, ein Gesamtkunstwerk, ein Opernspektakel, das ein Jahr lang minutiös geplant werde.
Rike Jurth hat die Vorbereitungen hautnah miterlebt, sie sagt: „Es gibt auf der ganzen Welt keinen aufwendigeren Wettbewerb. Und keinen schöneren.“
Einmal saß Jurth in Rios U-Bahn, ihr gegenüber die Mitglieder einer gegnerischen Karnevalsschule, an T-Shirts zu erkennen. Als ein Mädchen in der Gruppe sie anlachte, das Streichen einer Geige nachahmte und den Samba von Vila Isabel sang, ahnte die Berlinerin: Mein Auftritt in Rio könnte ein großer Erfolg werden.