Einmal, als dieser Ire anrief, da wusste Maja Georgijewa wirklich nicht weiter. Er wohne in Irland, aber arbeite in den Niederlanden, sagte der Mann, und er wolle dort nun sein Motorrad registrieren lassen. “Aber wo? Und wie?”, fragte er.
Maja Georgijewa versprach zu helfen. Worüber die 30-Jährige heute noch den Kopf schüttelt, die hellen Strähnen in ihren braunen Haaren zittern lustig. Denn was die Bulgarin am Ende herausfand, könnte eine Episode aus einem Roman von Franz Kafka sein.
Maja Georgijewa sitzt leger auf ihrem Stuhl in einem dunklen Callcenter im Brüsseler Blue Star Building, einem sechsstöckigen Betonbau, 20 Minuten außerhalb des Zentrums der EU-Hauptstadt. Der Raum ist erfüllt von Gemurmel, Sprachfetzen aus Spanisch, Schwedisch, Deutsch, Italienisch, Polnisch, Rumänisch. Längs durch den Raum ist eine Schnur gespannt. Daran hängen, waschlappengroß, die Flaggen der 26 EU-Mitgliedstaaten. Dies, so die Botschaft, ist kein gewöhnliches Callcenter. Hier sitzt Europa Direkt, die Beratungsstelle der Europäischen Union. Der Versuch, dem Staatengebilde, das von vielen als bürokratisches Monstrum wahrgenommen wird, ein Ohr und eine Stimme zu geben.
Baltische Bauern rufen hier an, um etwas über Fördergelder für Agrarbetriebe zu erfahren, spanische Studenten informieren sich über das Erasmus-Programm, bulgarische Handwerker interessieren sich für Arbeiterfreizügigkeit. Dann gibt es natürlich auch die Nörgler, die sich über die EU beschweren: über die absurde Bananenverordnung oder die unmenschliche EU-Grenzpolitik gegenüber Afrika. Das Callcenter ist so etwas wie der Kummerkasten des Kontinents. Und es ist die verspätete Antwort auf Henry Kissinger. Der US-Außenminister hatte Anfang der 70er Jahre dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt geklagt: “Wenn ich Europa anrufen will, weiß ich nie, welche Nummer ich wählen soll.” Jetzt gäbe es eine.
Doch von einem Staatsmann ist Georgijewa noch nie angerufen worden. Ihre Nummer, 0080067891011, ist gebührenfrei von jedem Telefon in der EU zu erreichen, werktags zwischen 9 Uhr bis 18 Uhr 30. Rund drei Millionen Euro lässt sich die EU das Angebot jährlich kosten.
Georgijewa und ihre 43 Kollegen aus 26 Ländern beantworten täglich rund 300 Fragen aus allen Ecken des Kontinents. Georgijewa spricht vier Sprachen, das Minimum zur Einstellung sind drei. Alle, die hier arbeiten, haben europäische Politik studiert oder schon einmal in einer EU-Institution gearbeitet. Neben ihrer Muttersprache beherrscht Georgijewa Russisch, Englisch und Holländisch. Deswegen landete der Anruf des Iren, der aus den Niederlanden gewählt hatte, auch bei ihr. Wegen seines Motorrads fing Georgijewa an, sich durch die Internetseiten der EU zu wühlen und die Gesetze Irlands und der Niederlande nach Zulassungsgesetzen für Motorräder zu durchforsten. Am Ende hatte sie keine gute Nachricht für den Mann: Er könne seine Motorrad nicht in den Niederlanden registrieren lassen, weil er in Irland gemeldet sei. Es sei aber auch unmöglich, das Gefährt in Irland zu erfassen, weil er es ja in den Niederlanden fahren wolle. “Ich gehe jetzt ins Irrenhaus”, sagte der Ire. Maja verwies ihn an die Rechtsberatung der EU.
“Solche absurden Fälle sind selten”, sagt Matina Fuentes, die das Callcenter leitet. Sie legt Wert auf den Umstand, dass sie nicht für die EU arbeite, sondern für die Firma Tech Team, die das Callcenter im Auftrag der EU managt. Ob die Mitarbeiter hier denn besser bezahlt würden als in üblichen Callcentern? Schließlich seien sie Spezialisten. “Wir zahlen einen Lohn der auf dem umkämpften Markt angemessen ist”, lautet die Antwort.
Auch Marija Mrdeza will nicht verraten, wie viel sie verdient. Sie setzt ihr Headset ab, und an ihrem zur Schnute gezogenen Mund ist abzulesen, dass es nicht viel sein kann. Wie in Callcentern üblich werden auch hier die Gespräche von Vorgesetzten mitgehört. Mrdeza ist gebürtige Kroatin und eine von sechs Mitarbeiterinnen, die Anrufe aus Deutschland beantworten. Aus dem bevölkerungsreichsten EU-Land kommen die meisten Anrufe. Im Verhältnis zur Bevölkerung allerdings rufen die Deutschen recht selten an. Die Belgier und die Zyprioten sind die eifrigsten Frager. Mrdeza ist in Düsseldorf aufgewachsen, die 32-Jährige spricht fließend Kroatisch, Deutsch und Englisch. “Die Deutschen”, sagt sie, “sind sehr sachlich. Sie wollen eine Information. Sie kriegen eine Information. Sie sind zufrieden.
Bei Anrufern aus anderen Ländern sei das oft anders. Die wüssten nicht genau, welche Aufgaben die verschiedenen Institutionen der EU hätten, und fingen an, zu plaudern: über ihre Familien, Nachbarn und Freunde. Aber das Tolle sei, dass sie der EU zutrauten, ihre Probleme zu lösen.
Probleme lösen: Das hoffen auch deutsche Schüler, die sich meist morgens melden. “Ich höre sofort, wenn wieder einer versucht zu betrügen”, sagt Mrdeza. Die Schüler verschwinden während einer Klassenarbeit aufs Klo und rufen in Brüssel an. “Die wollen dann wissen, wie der Kommissionspräsident heißt oder wo der Europäische Gerichtshof liegt”, sagt Mrdeza. An konkreten Fragen und konspirativen Stimmen erkenne man sie.
Die Frage, die Izabela Sikowska gerade beantworten muss, ist schwieriger. Eine Landsfrau ist bei der 30-jährigen Polin in der Leitung. Sie hat sich von ihrem französischen Mann in Frankreich scheiden lassen und hat nun Ärger mit den polnischen Behörden, die die Scheidung nicht an erkennen wollen. “Für Ehescheidungs urteile”, erklärt Sikowska, “sind die Gerichte des Mitgliedstaates zuständig, in dessen Hoheitsgebiet beide Ehegatten zuletzt ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten”, sagt sie. “Wenn sie also in Frankreich gelebt haben, müssen die Polen die Scheidung anerkennen.”
Nur einmal wusste auch Sikowska nicht weiter. Ein Anrufer wollte von ihr wissen: “Can you check?” Sikowska fragte, was sie für ihn checken könne. Der Mann wiederholte: “Can you check?” Das ging so lange, bis Sikowska merkte, dass der Anruf aus Tschechien kam. Der Mann fragte, ob sie Tschechisch könne. “Leider nur Polnisch, Russisch, Englisch und Holländisch”, sagte sie. Sie verband den Anrufer mit der tschechischen Abteilung.