Die Eitelkeit ist eine der sieben Todsünden, doch das ist den Einwohnern Rio de Janeiros Schnuppe.
Die Cariocas, wie man sie nennt, zeigen bei jeder Gelegenheit, was sie haben: pralle Bizeps, üppige Brüste, ein runder Po sind. Seinen Körper ungeniert zur Schau stellen zu können, ist wohl eine der typischsten Charaktereigenschaft der Menschen dieser Stadt.
Das beginnt schon früh am Morgen. In Copacabana und Ipanema machen sich die einen im Anzug auf zur Arbeit, während die anderen in Badehosen und Flipflops zum Strand schlendern. Man grüßt und unterhält sich, steht gemeinsam im Straßencafé, isst einen Sandwich und trinkt einen Fruchtsaft.
Nirgends auf der Welt ist die Halbnacktheit wohl akzeptierter. Was umso erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, dass das Zeigen der Haut auch in Rio de Janeiro noch vor einigen Jahrzehnten als Ausdruck von Armut und fehlender Zivilisation galt. Ende der vierziger Jahre wurde sogar über ein Bikini-Verbot nachgedacht – der Dreiteiler, der mehr offenbart als bedeckt, galt als anstößig.
Die aufkommende globale Freizeitgesellschaft beendete die Prüderie. In Rio gesellten sich zwei Faktoren hinzu: das Klima und die Geographie. Ersteres sorgt für neun Monate Sandalen- und Badewetter; letztere hat das Verschmelzen von Stadt und Strand ermöglicht. Der Strand dominiert dabei das Lebensgefühl selbst dort, wo er gar nicht existiert.
Das ist natürlich nicht nur ein Segen. Insbesondere für die Zeitgenossen, die nicht mit prallen Bizeps, üppigen Brüsten und knackigen Pos gesegnet sind. Und das sind ja die meisten von uns. Die Cariocas betrachten die fehlende Perfektion jedoch nicht als Problem, sondern als Herausforderung. Der eigene Körper wird zur Skulptur, an der es immer etwas zu formen, zu feilen und spachteln gibt. Hier etwas aufgefüllt, dort ein wenig abgetragen.
An einem Sonntag im Februar, brasilianischer Sommer, 35 Grad, wolkenloser Himmel. An der Copacabana kommt die Stadt zusammen. Zum Präsentieren, Defilieren, Ausstellen. Große Leibershow. Da sind die Reichen aus der Südzone, die Armen aus den Favelas, die neue Mittelklasse von überall her. Freche Halbwüchsige, Bikinimädchen, tätowierte Schwule, ihre Muskeln streichelnde Bodybuilder, sehnige Senioren, Touristen auf der Suche nach Begleitung, freche Taschendiebe, ihre Ware anpreisende Limonadenverkäufer. Weiße, Schwarze, Braune, Rote und alle dazwischen.
Auf der gesperrten, mehrspurigen Avenida Atlântica wird gejoggt, Skateboard, Longboard, Inlinskate und Fahrrad gefahren, die Frauen in grellfarbenen, enganliegenden Leggings; die Männer mit nacktem Oberkörper – nirgends auf der Welt dürfte die Sixpack-Dichte höher sein. Alle sind in Bewegung, alle schwitzen, alle lächeln. Die grelle, fast senkrecht stehende Mittagssonne wird hinter großen Sonnenbrillen ignoriert. Die beste Zeit also, um Erkundungen rund um das Körpergefühl der Cariocas anzustellen.
An einem der silberglänzenden Fitnessgerüste, die entlang des calçadão, der berühmten Strandpromenade stehen, macht Rafael gerade seinen 25. Klimmzug. Er ist Mitte zwanzig und arbeitet als T-Shirt-Model. Aber heute ist er oben ohne unterwegs. Er erzählt, dass er auch Unterricht in Capoeira gebe, dem Kampf, der mit den afrikanischen Sklaven nach Brasilien kam. Auf seinem Smartphone zeigte er einige Fotos von sich in Action.
„Die Muskeln“ sagt er, „brauche ich, um meinen Körper bei den Sprüngen zu beherrschen.“ Außerdem möge er seine Y-förmige Physis: „Ich zeige meinen Körper gerne her, das gehört in Rio einfach dazu. Ich mag es, angeschaut zu werden.“
Diese Fixierung auf die Physis ist kein neues Phänomen. Dawid Bartelt, Historiker und Leiter der hiesigen Heinrich-Böll-Stiftung, hat beobachtet, dass der Körper schon seit der Ankunft der Portugiesen, die erotisch fasziniert waren von der Nacktheit der Indianer, im Zentrum der brasilianischen Identität stehe. Bewegung und Schönheit gehörten in der allgemeinen Wahrnehmung zu den Brasilianern, schreibt er in seinem Buch „Copacabana – Biographie eines Sehnsuchtsortes“. Speziell in Rio de Janeiro habe dies eine besondere Bedeutung: „Körperlichkeit (…) ist mehr als anderswo prägend für die individuelle und kollektive Identität, für die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Cariocas.“
Es passt also, dass Capoeira-Kämpfer Rafael mindestens drei Mal in der Woche eine academia besuche – so heißen hier die Fitnessstudios. Er gehört damit zu den sechs Millionen Brasilianern, die ins Fitnessstudio gehen. Laut nationaler Vereinigung der Fitnessakademien (Acad) ist Brasilien heute das Land mit den zweitmeisten Einrichtungen dieser Art auf der Welt: rund 22.000. Nur in den USA gibt es noch mehr.
Die Zunahme der Muskelbuden begann parallel zum Aufstieg Brasiliens zur Weltwirtschaftsmacht um die Jahrtausendwende. Damals existierten im ganzen Land lediglich 800 Studios, ihre Zahl hat sich also mehr als Verzweiundzwanzigfacht. Die meisten, nämlich 6500, befinden sich in Säo Paulo, dem bevölkerungsreichsten und wirtschaftsstärksten Bundesstaat. Rio de Janeiro liegt mit mehr als 1100 Studios dahinter, wobei die zahlreichen Fitnesseinrichtungen, die in den letzten Jahren in den Favelas eröffnet wurde, nicht mitgerechnet sind.
Die Studios in Rio tragen Namen, die wie Imperative daherkommen: Body Planet, Bodytech, Workout Body. Mehr als die Hälfte der Kunden gehört zur Klasse C, der neuen, konsumorientierten brasilianischen Mittelschicht, die nun ihre errungen Stellung halten möchte. Den eigenen Körper zu formen, gehört zur Strategie.
Wir ziehen weiter, laufen die Promenade entlang, treffen den Transvestiten Melissa mit seiner Freundin, sie flechten Passanten Zöpfe in die Haare. Melissa zieht im Minirock eine Show ab, post und kreischt: „Ich bin ein Supermodel.“ Melissas Beine sind glattrasiert, ihre Fußnägel weiß lackiert. Mehr als acht Milliarden Euro gaben allein die weiblichen Angehörigen der brasilianischen Mittelklasse 2010 für Schönheitsprodukte aus, mehr als das Dreifache als noch eine Dekade zuvor. Ebenso wie die Nagelstudios boomen auch die Wachsstudios, in denen man sich eine der immer beliebteren Intimrasuren verpassen lassen kann. Wo anders als in Rio soll das so genannte Waxing erfunden worden sein?
Auf dem Weg zum Wasser drängen uns die Strandgänger, sie zu fotografieren: das Ken-und-Barbie-Paar William und Natalia, eine junge Frau mit über die Flanke tätowiertem Drachen, die Strandschönheit Rosanna, für welche man spontan das „Girl from Ipanema“, den berühmten Bossa Nova, anstimmen möchte: „Schau her, welch’ Schönheit, so voller Grazie, wie dieses Mädchen schreitet, in süßem Wiegeschritt, dem Meer entgegen; ein Mädchen, golden ihre Haut…“
Uns fällt auf, dass hier alle instinktiv wissen, wie man sich natürlich und vorteilhaft vor der Kamera bewegt. Niemand hat Hemmungen – Verklemmung ist in Rio ein Fremdwort. Wenn man böse ist, könnte man von einer Stadt voller Exhibitionisten sprechen. „Schon in den späten 1930er Jahren“, schreibt Dawid Bartelt, „wurde der Strand zum Laufsteg auf der die Elite Copacabanas den gebräunten Teint und den trainierten Körper zum gesellschaftlichen Wert und Distinktionskriterium erhob.“
Maria Isabel räkelt sich in einem Liegestuhl und beobachtet eine Gruppe durchtrainierter Jungs beim altinho dem Hochhalten eines Fußballs am Wasserrand. Maria Isabel ist Jahrgang 1958, wohnt an der Copacabana, hat lederbraune Haut, blondierte lange Haare, trägt eine wirklich gigantische Sonnenbrille und fragt, was wir für ein Foto verlangen würden.
Die fidele Seniorin hat sich die Brüste vergrößern lassen, sie stehen ab wie – ja, man muss das Bild gebrauchen: Wassermelonen. „Ich bin stolz auf das schöne Resultat“, sagt Maria Isabel. Es gibt die Theorie, dass die Sehnsucht der Cariocas nach üppigen Rundungen auch mit den vielen steilen Hügeln und geschwungenen Buchten Rios zu tun, für die Zuckerhut exemplarisch steht? Mit ihren Freundinnen diskutiere sie viel über die neuen Möglichkeiten der plastischen Chirurgie, sagt Maria Isabel.
Mit jährlich 1,5 Millionen Eingriffen im Namen der Ästhetik ist Brasilien das Land mit den zweitmeisten Schönheitsoperationen auf der Welt, nur noch übertroffen von den USA. Rio ist das Mekka. Von den 5000 Ärzten, die in der Brasilianischen Vereinigung Plastischer Chirurgen zertifiziert sind, praktizieren 1000 hier. Die Schönheits-OP als Abkürzung am Fitnessstudio vorbei. Sie ist vielleicht das wichtigste Element, um Rios Körperkult(ur) zu verstehen, weil sie die Maßstäbe immer wieder neu setzt.
Der neueste Trend: die Po-Vergrößerung. Am Strand bemerken wir die große Zahl wohlgeformter, ausladender Hintern – manche könnte man als Abstelltische verwenden. Dank Bikini, Samba und Karneval spielen die vier Buchstaben in Rio schon seit Jahrzehnten eine große Rolle. Neu ist, dass auch eine „Miss Bumbum“ gewählt wird, eine Miss Po. Der Wettbewerb ist mittlerweile so umkämpft, dass letztes Jahr die Jury bestochen worden sein soll. Einen Mister Po gibt es bisher nicht.
Die Wurzeln der plastischen Chirurgie lassen sich in Rio bis ins Jahr 1949 zurückverfolgen. Damals richtete der junge Arzt Ivo Pitanguy eine Klinik zur Behandlung deformierter Menschen ein. Heute ist er der berühmteste Schönheitschirurg Brasiliens – und Mitglied in der Akademie der Künste.
Einer seiner Schüler ist Paulo Müller. Er operiert Bäuche, Po und Brüste, gilt aber vor allem als Spezialist für Gesichtsoperationen. Wir treffen ihn an einem Montagmorgen im Hospital da Plástica im Stadtteil Botafogo. Gerade ist er von einem Nasenkongress in Istanbul zurückgekehrt, nun liegt eine Frau auf seinem Operationsstuhl, die sich hat liften lassen. Er hat ihr entlang der Ohren sowie oberhalb der Schläfen die Haut aufgeschnitten und gestraft, ihr Gesicht ist gelb geschwollen und mit Hämatomen übersät. Aber die 58-Jährige ist glücklich. „Frauen seien eitel“, erklärt sie ihre Entscheidung zur Operation. Sie selbst ist auch Ärztin, Gastroenterologin. In wenigen Tagen stehe sie selbst wieder im Operationssaal.
Beim anschließenden Gespräch erzählt Müller, dass manche seiner Patientinnen nach abgeschlossener Heilung Partys feierten. Das gebe es in Europa nicht, wo man sich eher geniere, weil Schönheitsoperationen mit dem Makel der Eitel- und Künstlichkeit behaftet seien. „Der Carioca ist da eher extrovertiert.“
20 Prozent seiner Kunden seien heute übrigens Männer, die sich Tränensäcke und Doppelkinns wegoperieren ließen. Viele Anwälte seien darunter, die meinten, sie wirkten überzeugender, wenn sie jünger aussähen. Das Absaugen von Bauch- und Hüftfett gehöre ebenfalls zu den Standardprozeduren, „das lassen vor allem Männer nach der Scheidung machen, sie wollen wieder auf den Markt“. Das Fett werde dann auf Wunsch in den Po injiziert, um diesen wieder praller erscheinen zu lassen. Die Po-Vergrößerung sei zwar allgemein im Kommen, bestätigt Müller, aber er mache sie nicht gerne, denn da könne sich vieles verschieben: „Man sitzt ja drauf!“
Müller ist stolz darauf, dass er manchmal Interessentinnen wieder nach Hause schickt. Wenn er merke, dass der Wunsch zur Veränderung nicht von einer Frau selbst, sondern von ihrem Mann stamme, lehne er die OP ab. Häufig tauchten auch Mütter mit ihren bildhübschen 18-jährigen Töchtern bei ihm auf und meinten der Nachwuchs bräuchte Silikonbrüste. Offenbar projizierten die Mütter ihre eigenen Wünsche. Er rät den Töchtern dann, lieber in 20 Jahren noch mal vorbeizuschauen. „Etwas Gutes verbessern zu wollen, führt in meinem Metier nicht unbedingt zu etwas Besserem. Aber die Mütter bleiben manchmal da.“
Eine Brustoperation kostet in Rio heute durchschnittlich zwischen 3000 und 5000 Euro. Sie ist damit immer noch ein Luxus. Müller operiert deswegen zwei Patientinnen pro Monat gratis, oft sind es die Haushälterinnen von Freunden und Bekannten.
Als wir Paulo Müller fragen, was er an uns Reportern verbessern würde, wundert er sich: „Ihr Europäer habt doch eine ganz natürliche Einstellung zum Altern.“ In Rio bekäme er die Frage aber natürlich oft gestellt. „Ich beantworte sie jedoch nie, weil das jeder für sich selbst wissen muss.“ Der Glaube der Cariocas, dass irgendetwas mit ihnen nicht stimme, ist offenbar umso ausgeprägter, je mehr Optimierungsversuche sie um sich herum beobachten.
Müller blickt dann noch ein wenig in die Zukunft. Die gehöre eindeutig der Eigenfettforschung, weil darin Stammzellen enthalten seien, die einen Verjüngungsprozess auslösen können, etwa wenn man damit Falten unterpolstere. Insbesondere für die Hände sei das interessant – die letzten Körperteile, an denen man das Alter eines Menschen ablesen kann. Er, Müller, träume ja von der Schönheitsoperation, die keinerlei Spuren hinterlasse, aber sie bleibe wohl ein Traum.
Müller, der sich selbst einmal das Bauchfett hat absaugen lassen („vor meiner Scheidung!“), macht uns mit seiner Kollegin Keila Silva bekannt. Die 50-Jährige lädt uns spontan in den Operationssaal ein, in dem sie gerade eine Fünf-Stunden-OP vorbereitet. Eine 36-jährige Angolanerin, extra aus Luanda für zwei Wochen angereist, will sich Fett absaugen und die Brüste straffen lassen. Die visuellen und olfaktorischen Details der anschließenden OP sollen dem Leser hier erspart bleiben. Nur soviel: Wir fühlten uns ein wenig an eine Schlachterei erinnert. Der Weg zur Schönheit führt über eine ziemliche Sauerei.
Tage später zurück am Strand treffen wir die Schauspielerin Aimee. Die 25-Jährige hat einen goldbraunen Teint und lange schwarze Haare. Sie fährt viel Fahrrad und sagt, dass Rio de Janeiro für sie eine Art großer Theaterbühne sei, auf der man sich darstelle, vergleiche und verglichen werde. Für Tätowierungen interessiere sie sich ganz besonders, es gebe ja so gut wie niemanden mehr ohne. Aimee selbst trägt ihren Namen in hebräischer Sprache auf dem Unterarm tätowiert – ihr Freund ist jüdischen Glaubens. Außerdem prangt an ihrer Ferse ein kleines Peace-Zeichen.
Generell aber sind Tätowierungen in Rio großflächig und farbig. Das Gesicht der Freundin auf der Brust, eine Dschungelszene mit Jaguar auf dem Rücken, das schwarz-rote Wappen des Fußballvereins Flamengo auf dem Oberschenkel.
Man kann diesen Kult um Tätowierungen, Muskeln und Rundungen als Schönheitsterror bezeichnen; man kann vom kapitalistischen Zwang zur Optimierung sprechen, der selbst vor dem Intimsten nicht Halt mache: dem eigenen Körper, den es auf den Markt zu tragen gilt. Aber die Cariocas sehen das eher gelassen. So wie Aimee: „Man kann die Schönheit eines anderen Menschen auch neidlos anerkennen. Ich fühle mich da eher inspiriert.“
Es heißt, dass die Schönheit vergänglich sei. Doch auch diese Weisheit ignoriert man in Rio de Janeiro ausdauernd. Der Kampf gegen die Schwerkraft und die Zeit wird hier an vorderster Front ausgefochten.