Gerd Wenzels viertes Leben beginnt mit einem Anruf. „Gerd!“, sagt die Stimme, „du verstehst doch was von deutschem Fußball?“ Wenzel zögert. Eigentlich hat er keine Ahnung.
Aber der Mann am anderen Ende der Leitung spricht einfach weiter: „Ist ja auch egal. Du sprichst Deutsch und Portugiesisch. Das muss reichen.“ TV Cultura aus Sao Paulo sucht einen Moderator für eine neue Fußballsendung. Sponsor ist die Bayer AG, die Stimme am anderen Ende der Leitung gehört einem alten Arbeitskollegen von Wenzel. Es ist das Jahr 1992.
Wenzel, schon seit 1955 in Brasilien, macht mit. Wird plötzlich Experte. Moderiert die Spiele der Bundesliga, jedes Wochenende. Alles, was er wissen muss – das Internet existiert nicht – besorgt er sich aus der FAZ und dem Kicker. Ein Lufthansa-Pilot bringt ihm die Blätter mit. Nachhilfeunterricht in Fußball. Lehrzeit. Bei einem seiner ersten Spiele verwechselt Wenzel den MSV Duisburg und Hansa Rostock. 20 Minuten lang. Diese ähnlichen Trikots! Doch was einem in Deutschland den Job kosten kann, trägt in Brasilien, diesem Land voller Improvisationskünstler, zur Legendenbildung bei.
Heute, 22 Jahre später. Sendezentrum von ESPN Brasil in Sao Paulo. Gerd Wenzel hat Kopfhörer auf, ein Mikro vor dem Mund, sitzt vor einem Bildschirm auf dem Jogi Löw ärgerlich gestikuliert. „Diese Mannschaft hat alles“, sagt Wenzel mit kräftiger Stimme, brasilianisches Portugiesisch, fließender Singsang. „Ihr fehlt nur eins: ein Titel. Löw ist seit sieben Jahren Trainer und hat nichts gewonnen.“ Wenzels Reporterkollege neben ihm schmunzelt. Ja, dafür ist der Gerd bekannt. Hartes Gericht. Der deutsche Hang zu Selbstkritik und Skepsis.
Dass Gerd Wenzel, 71 Jahre alt, einmal über Fußball so viel wusste wie Andreas Möller über Italien, ist völlig vergessen. Unter Fußballfans in Brasilien ist er heute eine Marke. Und Wenzel moderiert noch immer. Bundesliga. Jedes Wochenende. Der Akzent, die Rigorosität. Und ja, auch sein Wissen. Vereine wie Mainz 05, Hertha BSC oder Hannover 96 kennt man hier auch dank ihm. Wenzel ist auch: Fremdenführer durch den deutschen Fußball.
„In Deutschland wäre meine Karriere unmöglich gewesen“, sagt Wenzel. Aber Deutschland verließ er schon als vor vielen Jahren. Es blieben Kindheitserinnerungen. Zum Beispiel diese: Mitte der fünfziger Jahren. Wenzel lebte mit seiner Mutter Lisa in der Hagenauer Straße 17, Prenzlauer Berg, Ostberlin, DDR, gleich gegenüber der Schultheiß-Brauerei, das Haus steht noch. Sein Vater, Herbert, war wenige Jahre zuvor gestorben. Schwache Lunge. Wenzel spielt damals in den Trümmern des Prenzlauer Bergs Fußball. Einmal landet der Ball aus zusammengeknotetem Stoff neben einem Blindgänger. Spielabbruch, vorläufig. Da ist es nicht leicht. Eine Beziehung zum Fußball aufzubauen.
Wenzel ist ein Schlaks, gescheiteltes volles graues Haar, das hellrote Hemd über die Stoffhose geworfen. Er duzt sofort. Brasilianische Lockerheit im Konferenzsaal von ESPN. Drei Fernseher an der Wand. Wenzel aber schaut zurück, breitet vergilbte Zeitungsausschnitte aus. Originale. Geschichten des 20. Jahrhunderts. Geschichten eines Auswanderers.
Wenzels Mutter Lisa arbeitete bis in die dreißiger Jahre bei einer jüdischen Familie, den Friedmanns am Kurfürstendamm, als Hausmädchen. Dann verkaufte diese ihren Besitz in weiser Voraussicht des braunen Terrors und emigrierte nach Sao Paulo. 1955 kamen sie zu Besuch nach Berlin. Großes Wiedersehen. Und zum Abschied noch der Rat: Geht auch. Kommt zu uns. Bevor der nächste Krieg beginnt. Diesmal zwischen Amis und Russen.
Mit dem Zug passierten die Wenzels die Zonengrenze nach Westberlin, leichtes Gepäck. Von Tempelhof flogen sie nach Hamburg, amerikanische DC-3, „ich habe nur gekotzt“, sagt Wenzel. Zug nach Amsterdam. Einschiffen auf der Yapeyu, einem argentinischen Dampfer voller Auswanderer, drei Wochen Überfahrt. Von der argentinischen Besatzung lernte der 12-Jährige Gerd sein erstes portugiesisches Wort: Macaco, Affe. Die Argentinier mochten die Brasilianer nicht.
In Sao Paulo geht Wenzel bald auf eine brasilianische Schule, weil die deutsche, unterhalten von Westdeutschland, seine ostdeutschen Zeugnisse nicht anerkennt. „Das beste, was mir passieren konnte“, sagte Wenzel. So lernt er gleich Portugiesisch. Das des Alltags, der Straße und auch des Fußballs.
Auf einer Jugendfreizeit hat Gerd Wenzel ein „spirituelles Erlebnis“, wie er sagt. Er beschließt Theologie zu studieren, methodistische Fakultät. Anschließend geht er zu den Presbyterianern und übernimmt eine Gemeinde im Bundesstaat Minas Gerais, 1000-Köpfe, brasilianisches Hinterland. Wenzels erste Karriere ist eine religiöse. Und eine revolutionäre. 1968, in Brasilien regieren die Militärs, entdeckt Gerd Wenzel die Theologie der Befreiung. „Ich wollte zu den Armen, wollte alphabetisieren, veranstaltete Jugendkongresse.“ Das passte weder der Diktatur noch der Kirche. Wenzel streicht einen fast 50 Jahre alten Zeitungsartikel glatt. Darin wird er als „falscher Pastor“ bezeichnet, als mutmaßlicher Stasi-Agent. Kalter Krieg in Südamerika.
Drei mal wird Wenzel verhaftet und verhört. Als Berliner Junge im Krieg hat er einmal gesehen, wie ein brennendes Flugzeug ins Nachbarhaus stürzt. Nun lernt er wieder, was Angst ist. „Freunde und Bekannte von mir verschwanden. Für immer.“
Wenzel verlässt die Kirche, wird Einkäufer bei Mercedes Benz in Sao Paulo. Seine zweite Karriere ist auch schon die eines Ahnungslosen. Von Autos versteht Wenzel, der Theologe, so viel wie von Fußball. Aber er spricht die Sprache der Maschinen, des Geldes: „Jeder, der Deutsch konnte, kam unter.“ 1987, mit 44 Jahren, macht Wenzel sich selbstständig, wird Event-Manager, organisiert Konferenzen in ganz Südamerika. Rio bis Cancun. Seine dritte Karriere, eine lange Reise. Eigentlich reicht das für ein Leben.
Dann kommt der Anruf. Weil Wenzel noch immer die Sprache der Maschinen spricht. Maschinen in kurzen Hosen. Während der Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland kommentiert Wenzel für ESPN die Spiele der Deutschen Nationalmannschaft. Das macht ihn noch ein Stück größer, als er hier ohnehin schon ist.
Wenzel passt zu ESPN Brasil. Der Sender ist mit den Jahren ein investigativ-kritischer fast schon linker Sportsender geworden. „Es hat mit meinen Kollegen zu tun“, sagt Wenzel. Etwa Juca Kfouri, dem bekanntesten Sportjournalisten Brasiliens. Er lässt kein gutes Haar an der Fifa, dem brasilianischen Fußballverband CBF und ihrem Boss Marin, der einst als Politiker den Militärs diente.
Wenzel spricht über die WM. Er sagt, dass es ihm kalt den Rücken hinuntergelaufen sei, als Präsidentin Rousseff beim WM-Eröffnungsspiel aus den feinen Vip-Logen als „Hurentochter“ beschimpft wurde. Dort saß die weiße Elite Sao Paulos. „Es gärt in dieser Gesellschaft“, sagt Wenzel. „Die Scheiße der Diktatur kommt wieder hoch. Ein Teil der Oberschicht hätte am liebsten die Militärs wieder.“
Wenzel spricht mit derselben Klarheit und Strenge über Brasilien, mit der er auch dem Fußball begegnet. Er darf das. Er ist Brasilianer, hat hier geheiratet und zwei Kinder. Und doch hat erseine deutschen Wurzeln nie gekappt. Gerne scherzt Wenzel, dass er achtfacher Weltmeister ist: fünf mal mit Brasilien, drei mal mit Deutschland.
Hin und wieder passiert es deshalb auch, das Wenzel darüber nachdenkt, mit seiner Frau wieder nach Berlin zu gehen. Er hat schon eine Wohnung dort, Stargarder Straße, Ecke Pappelallee, in Laufweite seiner Kindheit. Jedes Jahr ist Wenzel einen Monat dort. Urlaub von Sao Paulo. „Diese Stadt massakriert dich: Häusermeer, Autos, verseuchte Flüsse, keine Natur. Acht Überfälle habe ich schon mitgemacht.“ Zudem weiß er nicht, ob er bei ESPN in Zukunft noch gebracht wird. Kürzlich hat Fox Sports die Rechte an der Bundesliga für Brasilien gekauft. Karriereende. Spielabbruch. Vorerst.
Wenzel kriegt einen einen Anruf. Aus dem Keller, in dem das ESPN-Radio sitzt. Sie wollen, na klar, eine Einschätzung zur deutschen Mannschaft. Wenzel sagt: „Bin schon da.“