Gleich neben dem Stadion wartet das „Batalhao Copa“, eines dieser Sonderkommandos, das die brasilianische Polizei für die Fußball-Weltmeisterschaft zusammengestellt hat. Vier junge Männer, sie tragen Kampfanzüge und Helme, die Holzknüppel in ihren Händen wippen auf und ab.
(Text mit Sven Goldmann, Belo Horizonte)
Die Burschen vom WM-Bataillon machen sich bereit für die Schlacht, die da kommen muss. Für den Ansturm gedemütigter Fans, sie werden Jagd machen auf die Repräsentanten des Staates, der so viel Geld ausgegeben hat für die Copa und nichts für Bildung, Gesundheit und Infrastruktur.
Über Wochen herrschte der Ausnahmezustand
Das offizielle Brasilien hat diesen Moment immer gefürchtet.
Dass sportlich etwas schief laufen könnte und das mit Siegen und Hoffnungen ruhig gestellte Volk aufbegehren könnte wie im vergangenen Jahr, als das Land über Wochen im Ausnahmezustand der Massendemonstrationen und Straßenschlachten steckte. Dieser Moment ist jetzt gekommen. Am Dienstagabend in Belo Horizonte, nach dieser fürchterlichen 1:7-Niederlage im WM-Halbfinale gegen Deutschland. Brasilien hat sich auf der größten aller Bühnen lächerlich gemacht, vor den Augen und den Kameras der gesamten Welt. Also setzten die Soldaten die Helme auf und wippen mit den Holzknüppeln und es passiert…
…nichts.
Am Dienstagabend verharrt Brasilien in Schockstarre. Zu dramatisch war die Demütigung, zu heftig der Schlag, als dass Brasilien wütend sein könnte und bereit zum Aufstand, zur Revolution. Brasilien ist verzweifelt. Brasilien ist verstört.
Am Dienstag ist mehr als nur ein Fußballspiel verloren gegangen. Das Debakel von Belo Horizonte steht für mehr. Für die extreme Selbstbezogenheit eines Landes, dessen Eliten meinen, sie müssten nicht schauen, was im Rest der Welt vor sich geht. Nicht bei der Bildung, beim Klimaschutz oder der globalen Wirtschaftsumstellung.
Und, ach, nicht beim Fußball. Bis zum Dienstag haben sie geglaubt, sie kämen schon irgendwie durch, sie seien ja schließlich Brasilianer. Sie haben dafür ein eigenes Wort erfunden, „jeitinho“, es steht für den kleinen Dreh und Kniff, der doch noch möglich macht, was eigentlich nicht möglich ist.
Am Dienstag gibt es keinen jeitinho.
“Das war keine Niederlage, das war ein historischer Moment”, sagen Jorge und Flavio, zwei Studenten, sie sind Mitte zwanzig. Als alles vorbei ist, stehen die beiden vor der Vereinshalle von Rio de Janeiros traditionsreicher Samba-Schule Vila Isabel. Dort wurde auf großer Leinwand das Halbfinale gegen Deutschland gezeigt. Wie die meisten hier tragen die beiden die gelben Trikots der Seleçao. Seit Jahrzehnten diente das Hemd mit den grünen Nähten den Brasilianern als Vorbild. Sie erkannten sich in ihrem Team wieder. Identifizierten sich mit ihm. Was bleibt ihnen nun?
Vor dem Anpfiff war aus den Lautsprechern der Samba-Schule ohrenbetäubende Musik gedröhnt. Sie wurde auch für die deutsche Nationalhymne nicht abgeschaltet, sondern erst als der brasilianische Marsch ertönte. Aufgestanden, Hand aufs Herz, mitgesungen, patriotische Selbstvergewisserung.
Das Publikum, rund 1500 Menschen, gesellschaftlicher Querschnitt: schwarz, weiß, Favela-Bewohner, untere Mittelklasse. Arbeiter, Beamte, Angestellte. Ein normales Brasilien fernab des aufgekratzten Fifa-Fanfests an der Copacabana. Dafür aber in Laufweite zum Maracana-Stadion, dem Ort des Finales. Das brasilianische Team hat bei dieser WM noch kein einziges Mal in der Arena, mehr Mythos als Stadion, gespielt. Es war der Traum eines Landes. Zerschmettert in 29 Minuten.
Kreischen, verzerrte Gesichter, Fassungslosigkeit, wo sonst karnevaleske Ausgelassenheit herrscht.
Mit dem Halbzeitpfiff verkündet dann ein Moderator in der Halle: „Leute, die Dose Bier kostet ab jetzt einen Real“, rund 35 Cent. Manche lachen, strömen zum Ausschank. Jorge und Flavio sagen, dass sie sich von ihrer Mannschaft betrogen fühlen. „Aber wir wussten auch, dass das Team in einem schlechteren Zustand ist, als behauptet. So wie unser Land. Es wurde uns viel vorgemacht.“ Und: „Wir, das Volk, haben diese Copa mit Milliarden bezahlt. Aber in den Stadien sitzen nur Reiche. Und jetzt verweigert man uns das einzige, was außer Schulden und unnützen Arenen geblieben wäre: den Titel.“
Weiter zur Copacabana, zum Epizentrum dieser WM. Es regnet in Strömen, Tropengewitter. Unter den Markisen der Bars suchen die Leute in den gelben Trikots Schutz, sie trinken Bier und diskutieren über die Bedeutung dieses Abends, über den Fußball hinaus. Der Regen, er schwemmt auch eine Illusion fort. Ein ganzes Land wollte an die einigende Wirkung des Fußballs glauben und vier Wochen lang feiern. Am Ende sollte die Krönung zum sechsfachen Weltmeister stehen, zum Hexa. Eine Frau an einem Stehtisch sagt: „Und jetzt haben wir sieben Dinger reingekriegt. Wir sind Sétimo.“ Sieben.
Es ist der typische Sarkasmus der Brasilianer beim Blick auf sich selbst. Er schien während der letzten vier Wochen verschwunden zu sein. Jetzt ist er wieder da. Und noch etwas anderes ist wiedergekehrt. Die sozialen Spannungen, die von der WM überdeckt wurden. Durch die Pfützen auf den Straßen waten knöcheltief dunkelhäutige Jugendliche, die T-Shirts halbstark um den Hals gehängt. Herausfordernde Blicke zu den grau uniformierten Militärpolizisten, die argwöhnisch an den Straßenecken wachen.
Die Stimmung ist aggressiver als in Belo Horizonte, wo sie immer noch unter dem Eindruck des Orkans stehen, und wie viel lieber hätten sie doch einen Tropenregen gehabt wie in Rio. Luiz Felipe Scolari tritt vor die Kameras. Der Trainer der Nationalmannschaft, die Brasilianer nennen ihn ehrfürchtig Felipao, den großen Felipe. Felipao sagt, das sei natürlich eine furchtbare Niederlage gewesen, aber eben auch gegen eine sehr gute Mannschaft, der auch ein wenig das Glück zur Seite gestanden habe. „Wir haben uns gerade mit den Deutschen unterhalten, die verstehen selbst nicht, was da passiert ist, jeder Schuss war ja ein Treffer.“ Weiter im Relativierungsvortrag: „Alle haben ihr Bestes gegeben“, es hätte halt nicht gereicht, und überhaupt: „Vergesst bitte nicht, dass das in eineinhalb Jahren erst die dritte Niederlage war, wir müssen jetzt nicht alles in Frage stellen.“
Frei übersetzt heißt das, es müsse eigentlich gar nichts in Frage gestellt werden.
Wie das offizielle Brasilien will auch Scolari nicht wahrhaben, dass die Zeiten sich geändert haben. Brasiliens Fußballstil ist so antiquiert wie die auf Kartellen und Monopolen basierende Wirtschaft des Landes. Bis heute berauscht sich Brasilien an Pelé und Garrincha und den anderen Helden einer vergangenen Epoche. Sie haben versucht, diesen Geist wiederzubeleben, mit Leidenschaft und Pathos, beides fand seinen Ausdruck im gemeinsamen Singen der Nationalhymne, es war eher ein kollektives Brüllen von 60 000 Zuschauern und elf Spielern. Doch wenn das Pathos überbetont wird, ist das oft ein Zeichen für einen Mangel an Qualität. In diesem Sinne sind die Brasilianer von den Deutschen geradezu seziert worden. Mit einer Präzision und Gnadenlosigkeit, wie sie den Romantikern in Südamerika schon immer unheimlich war – und die sie doch ein wenig bewundern.
Später, im Zentrum von Belo Horizonte. Eher zaghaft denn siegestrunken wagen sich die wenigen Fans in schwarz-weißen Trikots in die Bars – voller Ungewissheit, wie die brasilianischen Gastgeber die Demütigung aufnehmen werden. Reichlich Polizei ist aufmarschiert, wieder wippen die Holzknüppel. Es kommt, was keiner erwartet hat: Die Frauen und Männer und Greise und Halbwüchsigen, die da eben noch schweigend über ihren Gläsern saßen, sie springen auf und laufen den Deutschen entgegen, sie umarmen und beglückwünschen sie. „Um jogo fantastico, parabens!“ – großartiges Spiel, Glückwunsch, und wie gern sie doch einen wie Thomas Müller hätte, „einfach sensationell, der Mann“, noch ein Bier? Aus der befürchteten Feindseligkeit erwächst spontane Völkerfreundschaft. So geachtet und beliebt wie in dieser langen Nacht von Dienstag zu Mittwoch sind die Deutschen selten gewesen irgendwo außerhalb von Deutschland. Trotz oder gerade wegen dieser außergewöhnlichen Fußball-Demonstration. „Ihr seid die Guten“, sagt einer im kanariengelben Leibchen.
Und die Bösen? Sind woanders und doch allgegenwärtig. Auch an diesem Abend, in Rio de Janeiro. Vor dem mondänen Hotel Copacabana-Palace entfalten sechs Gestalten ein Transparent: „Fifa – Go Home!“ Viele Funktionäre des Weltfußballverbands sind in dem schwer bewachten Luxushotel abgestiegen. Rund um das Gebäude flackern die Lichter der gepanzerten Autos von Rios gefürchteter Sondereinheit. Aber sie greift nicht ein, die Demonstranten halten Regen und Windböen nicht lange stand.
Rückfahrt in Richtung Zentrum. Auch im Bohemeviertel Santa Teresa stehen sie in den Bars beieinander. Der Schock der Niederlage hat ein Bedürfnis ausgelöst: Redebedarf. In Santa Teresa fallen die Diskussionen immer etwas intellektueller, liberaler, linker aus. Eine Frau, Lehrerin, sagt in der holzvertäfelten Bar do Gomes: „Wir müssen euch Deutschen dankbar sein. Die Niederlage ist eine Chance zur Bestandsaufnahme. Etwas Grundlegendes läuft doch falsch in Brasilien.“ Sie meint das nicht in sportlicher Hinsicht. Sie meint die gesellschaftlich Privilegierten. „Es war ein Sieg von Bescheidenheit und Arbeit über Hochmut und Korruption.“ Kann die Niederlage im Fußball eine kathartische Wirkung entfalten? „Brasilien ist nicht mehr das Land des Fußballs“, ruft einer. Er scheint fast froh darüber zu sein. Ist jetzt der Blick frei auf die Substanz, die eine Gesellschaft ausmacht?
Alle hier hoffen, dass es jetzt wieder Demonstrationen geben werde, zumal Anfang Oktober Präsidentschaftswahlen anstehen. Aber man zweifelt am Entstehen einer Protestbewegung. Zu fragmentiert sei Brasilien. Die Zahl der Wahlenthaltungen werde wahrscheinlich neue Rekorde erreichen.
In Santa Teresa interpretiert man die Niederlage politisch. Schließt vom Zustand der Seleçao auf den des Landes, seiner Hospitäler und Schulen. Die Mannschaft, ihr Trainer: Aufschneider, Blender, die der Bevölkerung etwas vorgemacht haben. Genauso wie es die politische Klasse tut. In den Massenmedien verweigert man diesen Analyseschritt, bleibt in der hermetischen Welt des Fußballs, spricht von “Schande” und analysiert Abspielfehler. Kaum eine WM war vor dem Start so politisch aufgeladen wie diese. Mit dem Anpfiff wollte man das alles vergessen, feiern, gute Laune haben. Nun haben 29 Minuten und fünf Tore als Erinnerung gereicht,
Spät in der Nacht klart es über Rio de Janeiro auf. Der Christus kommt schemenhaft zwischen den vorüberziehenden Wolkenfetzen hervor. Er ist immer noch grün und gelb. Die Copa ist noch nicht vorbei. Aber für Brasilien hat eine neue Zeitrechnung begonnen. Auch, aber nicht nur für den Fußball.