„Ich sah Menschen, die aßen. Es war ein Schock“ – Maria Rita

„Ich sah Menschen, die aßen. Es war ein Schock“ – Maria Rita

Ihre Mutter, Elis Regina, gilt als die größte Sängerin Brasiliens. Maria Rita, 36, hat sich lange geweigert, ihr nachzufolgen. Heute ist sie selbst eine gefeierte Musikerin. Wie ihre Mutter kritisiert sie die Regierenden – und hält die Fußball-WM schlecht für das Land.

Senhora Rita, interessante Tätowierungen haben Sie da auf Ihrem Arm.

Sieben Stück insgesamt. Hier, auf dem rechten Unterarm, das Kreuz des Südens – ein Sternbild, das auf unserer Flagge zu sehen ist. Dazu ein Zitat: „Mein brasilianisches Brasilien, Land des Sambas und des Tamburins.“ Es stammt aus dem Song „Aquarell von Brasilien“.

Ihre neue Platte „Das Herz schlägt den Rhythmus“ ist eine Hommage an den Samba …

… weil in ihm unsere kulturelle Identität steckt, unsere Souveränität, er ist unsere Erfindung. Er besitzt eine Kraft, die mich gepackt hat und Außenstehenden nur schwer zu erklären ist. Sein Rhythmus bringt mich zum Tanzen, ich verliere die Kontrolle, gebe mich hin. Das sieht man, wenn ich auf der Bühne stehe. Mein Samba kommt von der Straße, aus den Samba-Abenden, den Bars.

Es heißt, man könne Brasilien ohne den Samba nicht verstehen.

Das stimmt. Er kam mit den Sklaven aus Afrika, steckt voller Geschichte und Geschichten. Voller Witz, Sehnsucht und Widerstand. Anfang des 20. Jahrhunderts erfanden ihn die Schwarzen in den Favelas neu. Als er dann die Hügel herabkam, wurde er verboten, und die Polizei nahm die Musiker fest. Aber der Samba überlebte. Heute gibt es Songs, die kennt jeder, ob alt oder jung, reich oder arm. Sie sind der soziale Kitt Brasiliens.

Können Sie das erklären?

In einem Land, in dem es bis heute zahlreiche Analphabeten gibt, wirkt die Musik direkter. Die Brasilianer sind ein musikalisches, melodisches Volk: Indios und Afrikaner brachten uralte Rhythmen ein, die Portugiesen den Fado und die Kirchenmusik. Schon unsere Sprache ist Gesang. Hören Sie mal: „Bom dia“ …

… bong dschiah – Guten Tag …

… das ist ein kleines Lied. Diese Zugänglichkeit führte dazu, dass die Musik bei uns die Rolle einnahm, die die Literatur in Europa hat. Zum Beispiel im Karneval. Dort gibt es die „enredos“ – Geschichten, die bei jedem Umzug erzählt werden. Früher handelten sie von wichtigen Momenten in unserer Geschichte, etwa der Ankunft der Portugiesen. Ich kenne Leute, die Klassenarbeiten mit Sambatexten bestritten haben. Diese Tradition ist leider etwas verloren gegangen, weil die Sambaschulen sich kommerzialisiert haben und gefällige Themen auswählen.

Dafür haben Sie nun politische Songs geschrieben.

Es geht nicht mehr anders. Ich verspüre eine große Unruhe. Vielleicht habe ich das von meiner Mutter, vielleicht kommt es, weil ich selbst zweifache Mutter bin. Brasilien gehört zu den 20 ungerechtesten Ländern der Welt, wenn es um die Verteilung unseres immensen Wohlstands geht. In einem Land, in dem der Mindestlohn bei 240 Euro liegt, gönnen sich unsere Politiker 7000 Euro im Monat an Diäten. Aber sie tragen nichts zur Verbesserung des Landes bei, unser Kongress ist einer der faulsten der Welt. Das ist eine richtige Verbrecherbande. Letztes Jahr wurde gegen mehr als 220 Abgeordnete in Brasilia ermittelt. Kürzlich wurde einer verurteilt, weil er die Angestellten auf seiner Fazenda wie Sklaven behandelte. Glauben Sie, der tritt zurück? All das regt mich sehr auf. Ich habe mir gesagt, diese Dinge müssen jetzt raus, sonst werde ich verrückt. Ich will Diskussionen anregen. Wenn ich diese Rolle nicht spielen kann, fühle ich mich falsch.

In dem Song „Bola pra Frente“, den Ball nach vorne spielen, ermutigen Sie die junge Protestbewegung.

(Maria Rita beginnt zu singen:) Aufrichtig sein und nicht vor der Wirklichkeit fliehen, dem Leben ins Gesicht schauen, diesen Leuten zeigen, dass es anders, dass es besser wird.

Haben Sie an den großen Protesten letztes Jahr teilgenommen? Sie waren für Brasilien eine kleine Zeitenwende. Die Brasilianer hatten seit Jahren nicht mehr demonstriert. Mit einem Mal gingen sie für bessere Schulen, Krankenhäuser, Busse und gegen die Korruption auf die Straße.

Ich war nicht dabei, aber ich habe eine Ausrede: Meine Tochter war gerade fünf Monate alt, und ich wollte nicht riskieren, dass ihre Mutter mit blauem Auge, einer gebrochenen Rippe oder vom Tränengas vernebelt nach Hause kommt. Die Militärpolizei ist in Rio ja bekannt für ihre Brutalität. Ich habe eine Entscheidung als Mutter getroffen. Aber ich habe damals viel mit meinem neunjährigen Sohn diskutiert. Er kam aus der Schule, und dort hatte ein Mitschüler behauptet, die Demonstranten seien Banditen. Das musste ich geraderücken. So etwas kommt aus den Medien. Sie sind hier sehr manipulativ, und leider glauben viele Brasilianer, was im Fernsehen behauptet wird.

Andere Künstler haben nicht so eine gute Ausrede wie Sie. Das Schweigen der brasilianischen Künstler war auffällig.

Dafür habe ich mich geschämt. Keiner von uns hat Stellung bezogen oder sich auf einer Demo blicken lassen. Nur Caetano Veloso hat sich vermummt fotografieren lassen.

Er ist Liedermacher und legendärer Begründer des Tropicalismo – eine Kulturbewegung in den 1960er Jahren, in der auch der Bossa Nova aufging.

Ja, er hat damit gegen das drohende Vermummungsverbot protestiert. Das war’s, und das Publikum hat das gespürt. Man kann das Schweigen nicht nur damit erklären, dass viele Künstler beim konservativen Globo-Konzern unter Vertrag stehen. Wir sind vor unserer gesellschaftlichen Verantwortung geflohen.

Sie wären gern bei den Protesten dabei gewesen?

Weil ich das Gefühl hatte, dass die Brasilianer aufgewacht sind. Sie haben festgestellt, dass Brasilien nicht das großartige Land der Zukunft ist, von dem alle zehn Jahre lang geschwärmt haben. Brasilien liegt bei internationalen Bildungsvergleichen ganz hinten. Aber in der Kriminalitätsstatistik sind wir Spitze. So etwas erschreckt mich. Es schlummert eine große Aggression in dieser Gesellschaft. Zum Beispiel beim Fußball, wenn schwarze Spieler als Affen beschimpft werden. Ich nehme das auch in Gesprächen wahr. Viele sind wütend, dass große wie kleine Verbrecher straffrei davonkommen. Gleichzeitig haben sie Angst vor der Polizei. Wir wissen ja nie, ob ein Polizist nicht ein Verbrecher in Uniform ist. Unsere Sicherheitsorgane sind seit der Diktatur nie reformiert worden, sie sind schauderhaft. Auch deswegen nehmen einige Leute das Recht jetzt in die eigene Hand. Jeden Tag wird irgendwo in Brasilien ein vermeintlicher Dieb von Bürgern geschnappt, misshandelt und zur Schau gestellt. Wenn so etwas passiert, ist das extrem gefährlich. Brasilien gleicht einem pfeifenden Dampfkochtopf. Pffffft. Er steht kurz vor der Explosion.

Steckt die Fußball-WM auch in dem Dampfkochtopf?

Sie klemmt im Ventil fest und macht das Pffft. Ich glaube nicht an die Weltmeisterschaft. Klar, ich glaube an unser Nationalteam, die Selecão. Ich mag vor allem Neymar, sein Spiel hat etwas vom Tanz mit der Kugel, für den unser Fußball einst berühmt war. Mittlerweile ist das brasilianische Spiel leider auch stark auf Effizienz ausgerichtet. Diese Sympathie für unsere Jungs ist das eine …

… und das andere?

Ist die WM als Event. Die Veranstaltung wurde so katastrophal vorbereitet – das verheißt nichts Gutes. Wir haben schon 2007 bei den Pan-Amerikanischen Spielen in Rio gesehen, dass so ein Großereignis Steuergelder auffrisst aber nicht unbedingt etwas Positives hinterlässt. Die Kosten für die Stadien sind ungeheuerlich. Unser Geld wurde in die Taschen von Bauunternehmern und Politikern umgeleitet. Doch wer braucht diese riesigen Stadien? An Orten mit viertklassigen Fußballteams, in denen man viel eher Krankenhäuser hätte bauen sollen? Ich mag unsere Präsidentin Dilma Rousseff, ich habe sie gewählt, ich bin Anhängerin ihrer Arbeiterpartei PT. Meine Mutter hat während der Militärdiktatur mitgeholfen, die PT zu gründen. Aber ich stimme Dilma nicht zu, wenn sie sagt, dass dies die beste WM aller Zeiten wird. Ich glaube, Brasilien wird sich blamieren.

Das erzählt einem ja mittlerweile jeder Taxifahrer. Haben Sie konkrete Anhaltspunkte?

Es ist nichts richtig fertig geworden. Viele der versprochenen Infrastrukturprojekte wurden gestrichen oder sind noch im Bau. Niemand ist vorbereitet, keiner spricht Englisch, nichts ist ausgeschildert. Es wird ein Chaos. Wir Brasilianer sind das ja gewohnt. Für die ausländischen Besucher wird es eine neue Erfahrung sein.

Sie arbeiten selbst mit Großveranstaltungen. Als Sie 2012 auf einer Open-Air-Tournee durch Brasiliens größte Städte waren, kamen hunderttausende Menschen, um sie zu hören. Ich nehme an, Ihre Konzerte sind besser organisiert als die WM.

Wir versuchen das zumindest. Aber es kostet viel Schweiß. Einmal sollte ich in einer Stadt im brasilianischen Hinterland auftreten. Als ich in meiner Garderobe den Fön einschaltete, brach die Stromversorgung im Viertel zusammen. Unser Techniker kam hereingestürzt. Er sagte, dass ich dem Stromnetz, das durch unsere Anlage schon überlastet war, den entscheidenden Rest gegeben hätte. Wir haben die Show dann mit der ständigen Angst vor einem Stromausfall über die Bühne gebracht. Alles hier ist Schweiß und Leiden. Die Bezahlung kommt zu spät, der Generator trifft nicht ein. Am Ende jedes Konzerts atmen alle auf. Wieder eins geschafft.

Sie haben sich als junge Frau jahrelang geweigert, zu singen. Warum?

Weil alle Welt es von mir erwartete. Als ich elf Jahre alt war, fing das an: Die Tochter von der berühmten Elis Regina muss Sängerin werden, sie muss singen! Nein, ich musste gar nicht. Ich kam in die Pubertät und habe mich geweigert. Mit 16 Jahren ging ich mit meinem Vater, einem Pianisten, in die USA. Keiner dort wusste, wer ich bin. Das war befreiend. Ich war niemand mehr.

Und dann sangen Sie doch.

Es passierte in den USA auf einer Feier mit brasilianischen Freunden, da war ich 19. Ich habe einfach losgelegt, mit geschlossenen Augen, mein Vater hat Gitarre gespielt. Als ich die Augen wieder öffnete, hatten alle Tränen in den Augen. Ich war baff. Der Song hieß „O Bêbado e a Equilibrista“ …

… „Der Betrunkene und die Seiltänzerin“ …

… einer der wichtigsten Songs meiner Mutter gegen die Militärdiktatur. Danach kam ein Freund meines Vaters zu mir. Er sagte, ärgere dich bitte nicht, Maria, aber ich weine, weil ich dachte, dass ich nach dem Tod deiner Mutter nie mehr diese Emotionen empfinden könnte. Da habe ich verstanden, dass ich nicht nur Sehnsucht nach meiner Mutter auslöse, sondern andere berühren konnte. Ich bin nicht sofort Musikerin geworden. Erst bin ich zur Uni gegangen, habe Praktika gemacht, in meinem Studentenwohnheim gearbeitet und Klopapierrollen ausgegeben. Ich habe mir Zeit gelassen. Doch am Ende war klar, dass etwas in mir war, das mit aller Macht hinausdrängte und das ich nicht länger unterdrücken durfte.

Ihre erste CD nahmen Sie mit 24 Jahren auf. Sie verkaufte sich auf Anhieb eine Million Mal in der ganzen Welt und bekam zahlreiche Preise.

Es wäre eine Lüge, zu sagen, dass der Erfolg aus dem Nichts kam. Natürlich wollten viele Elis Regina in mir wiederfinden. Andere wollten mich umbringen, weil ich Elis Regina in mir gefunden hatte. Oder sie waren neugierig auf die Tochter von Elis. Und andere nahmen mich, wie ich war. Dann wurde ich schwanger, und das alles spielte keine Rolle mehr. Man kann vielleicht sagen, dass mein Sohn mich damals vor dem Abheben bewahrt hat. Ohne ihn würde ich heute wahrscheinlich stinkreich und allein in irgendeiner Villa sitzen. Ich begriff, dass ich eine Beziehung mit der Kunst eingegangen war, nicht mit dem Ruhm.

Erklären Sie uns, wer Elis Regina war?

Sie war die Billie Holiday Brasiliens. Extrem dickköpfig. Eine sehr schöne und mutige Frau, ihrer Zeit weit voraus. Auf absurde und schmerzhafte Weise talentiert. Eine Hingabe auf der Bühne, eine makellose Songauswahl, mit brillanten Musikern wie Tom Jobim, einem der Begründer des Bossa Nova. Meine Mutter war aber auch extrem eitel. Und eine liebende Mutter. Sie war verliebt ins Leben, in die verlorene Liebe. Sie liebte und lebte mit einer kaum nachzuvollziehenden Intensität. Sie liebte ihre Familie und liebte die Bühne noch mehr. In einem Interview sagte sie, dass kein Mann und kein Kind sie davon abhalten könnte, auf die Bühne zu gehen. Als ich das als Mädchen las, war ich aufgebracht und eifersüchtig. Heute sage ich das Gleiche, weil ich das Gefühl hätte, dass der Verzicht mich als Mensch kleiner machen würde.

Ihre Mutter Elis Regina starb 1982 mit nur 36 Jahren, zu viel Kokain, zu viel Alkohol. Viele trauerten auch um eine Künstlerin, die gegen die Militärdiktatur gesungen hatte.

Elis war ein Symbol. Sie war nicht furchtlos, aber sie war mutig. Sie kannte die Risiken ihrer politischen Haltung und lotete die Grenzen aus. Einmal sagte sie während einer Tournee in den Niederlanden, dass Brasilien von Gorillas regiert werde. Sie wolle damit jedoch nicht die Gorillas beleidigen.

Was passierte?

Als sie in São Paulo landete, wurde sie festgenommen. Sie musste zwei Tage lang in einem Gefängnis auf einem Stuhl sitzen. Niemand hat mit ihr geredet. Nur ein Soldat saß vor ihr und hat Bücher und Schallplatten zensiert. Man wollte ihr zeigen, wer die Macht hat und dass man sie als Künstlerin jederzeit zerstören könne. Das war ihre Folter.

Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Mutter?

Keine einzige. Ihr Tod war ein Trauma für mich. Es hat alles ausgelöscht. Ich war vier Jahre alt, als sie starb. Ich erinnere mich an unsere Apartments, an die Gardinen, nur nicht an sie.

Man sprach zuletzt viel vom neuen Brasilien. Vom Giganten der aufgewacht sei. Vom Land, dessen Zukunft endlich gekommen sei. Wie hat sich Brasilien im letzten Jahrzehnt verändert?

Ich bin in den letzten zwölf Jahren viel in Brasilien herumgekommen, viel mit dem Bus gereist. Was mir am stärksten aufgefallen ist: Ich sah Brasilianer, die aßen. Brasilianer, die zur Schule gingen und arbeiteten. Es gibt auf einmal eine untere Mittelschicht. Das ist die große Errungenschaft der linken Regierungen von Lula und Dilma Rousseff. Sie haben vielen Menschen erstmals die Möglichkeit gegeben, sich zu entfalten. Einmal fuhr ich durch ein abgelegenes Gebiet im Nordosten, einer der elenden Regionen des Landes, wo es Sklavenarbeit und Hunger gab. Ich sah Menschen, die lächelten. Der Hunger war verschwunden. Das ist der große Unterschied. Es war ein positiver Schock für mich.