José Bento schafft es dann doch, seinen Bauch zwischen die engen Sitzreihen zu klemmen und niederzuknien. Er hat sich gewunden und gestöhnt. Doch dann ist es geschafft, er stützt die Ellenbogen auf das Sesselpolster, schließt die Augen und presst die Handflächen so fest gegeneinander, dass sie rot anlaufen.
Es ist Sonntagmorgen, und die “Globale Kathedrale des Glaubens” im armen Norden Rio de Janeiros ist mit 12000 Menschen bis auf den letzten Platz gefüllt. Sie ist das größte Gotteshaus Lateinamerikas. Innen gleicht sie einem Amphitheater, außen einer Shopping-Mall, sie verfügt über ein vierstöckiges Parkhaus, drei Kinderkrippen und ein Fastfood-Restaurant. Doch die Kathedrale ist nicht katholisch, wie man in Brasilien, dem Land mit der größten katholischen Gemeinde der Welt, vermuten könnte, sondern gehört der Universalkirche vom Reich Gottes: einer evangelikalen Sekte.
1977 wurde sie gegründet, nun ist sie die erfolgreichste Brasiliens. Rund 26 Millionen Brasilianer bekennen sich heute zu der aus den USA importierten Glaubensrichtung, denn dieser Glaube scheint ihnen der angemessenere für ihr problembeladenes Dasein zu sein. Die Evangelikalen – kommt von Evangelium und bezieht sich nicht auf die evangelische Amtskirche, sondern benennt eine christliche Strömung, die die Worte des Evangeliums strikt und konservativ auslegt – nehmen jeden auf, egal, was er für ein Leben gelebt hat, Alkoholiker, Verbrecher, Prostituierte. Und sie machen Mut, ein neues Leben zu beginnen. Bei den Katholiken ist das anders, sagen die Menschen in der Kirche. Da wird das schlechte Gewissen bearbeitet, und man muss um Vergebung bitten für seine sündhafte Existenz. Der evangelikale Glaube ist eine Theologie des Ergebnisses. Wunder finden nicht nur in der Bibel statt, sondern jeden Tag – wenn man dafür betet.
Außerdem treten die Evangelikalen mit dem Versprechen an, die Gläubigen reich zu machen, und wollen eine enge Beziehung zu Jesus ermöglichen. Weder gibt es bei den Katholiken dieses Wohlstandsversprechen, noch kann man eine persönliche Beziehung zu Jesus aufbauen, denn dazwischen steht die Kirchenhierarchie. Gott ist bei den Katholiken immer fern. Bei den Evangelikalen ist Jesus ein Freund. Im Gottesdienst umarmen sich die Evangelikalen, und der Pastor ruft: “Es ist Jesus, der euch umarmt.”
In fast jedem Häuserblock in Rio gibt es mittlerweile eine improvisierte Kirche, die Zahl der evangelikalen Taufen steigt rapide. Allein die Universalkirche hat ihre Mitgliederzahl im letzten Jahrzehnt auf über zwei Millionen verzehnfacht. Mehr als 14000 Pastoren sowie Verlage, Fernseh- und Radiostationen verkünden ihre Botschaft. Die Evangelikalen verändern die religiöse und die politische Landkarte Brasiliens. Ihre Führer sitzen im Parlament und in der Regierung von Präsident Lula.
Während José Bento zwischen den Sitzreihen kniet, liegen auf der Bühne vor dem Altar fünf tadellos frisierte Männer mit Krawatten. Sie strecken die Arme von sich, ihre Hintern zeigen in die Höhe. Die Pastoren haben ihre Jacketts beiseite gelegt und rufen erregt in die Mikrofone. Einer fleht Jesus an, den Anwesenden den “finanziellen Sieg” zu schenken. Dann betet er: “O Herr, ich will den Reichtum, den du mir versprochen hast.” Er zückt eine braune Karte, die er als “Kreditkarte Gottes” bezeichnet. Sie sieht aus wie eine echte, ist aber nur ein Symbol. Auch José Bento fummelt die Karte aus dem Portemonnaie. Auf die Rückseite hat er seine Unterschrift gesetzt. Er hält sie in die Höhe, der Pastor ruft: “Das ist der Kredit, den ihr bei Jesus habt. Er will, dass ihr Sieger seid. Aber ihr müsst dafür etwas geben.”
Bento langt in sein Portemonnaie und reiht sich in die Schlange von Gläubigen ein. Vor der Bühne stehen adrette Mädchen in schwarzen Kleidern, halten rote Samtbeutel auf. Bento schiebt umgerechnet 50 Euro hinein. Er bekommt ein schwarzes Plastikarmband. Es weist ihn als Opferbringer aus. “Der Teufel wagt sich jetzt nicht an euch heran”, brüllt der Pastor, und José Bento ruft: “Hinaus, Satan. Hinaus, hinaus, hinaus!” Er schlägt mit der Faust in die flache Hand, und 12000 Gläubige tun es ihm gleich. Einige zittern am ganzen Körper und scheinen wie in Trance zu sein. Dann singen sie religiöse Popmusik, und immer wieder rufen sie Jesus um Erfolg an. Drei weitere Kollekten folgen. Nur an der letzten, bei der der Pastor ein volles Monatsgehalt fordert, beteiligt sich José Bento nicht.
So oft er kann, besucht Bento seit einem halben Jahr den “Templo”. Jeden Tag finden mehrere Gottesdienste statt. Den für die Arbeitslosen und den für die Unternehmer besucht Bento nicht. Er ist Informatiker und wohnt mit seiner Frau und zwei Töchtern in einem der ärmeren Stadtteile Rios. “Bevor ich zu Jesus fand, habe ich getrunken und geraucht, hatte Schulden und behandelte meine Frau schlecht”, sagt er. “Doch ich habe den Teufel bezwungen. Und ich habe Wunder erlebt.” Er fand einen Job.
“Die Theologie des Wohlstands kommt vor allem bei denen an, die nichts haben”, sagt Silvia Fernandes. Die Soziologin vom Zentrum für Religiöse Statistik und Sozialstudien beschäftigt sich seit einigen Jahren mit dem Aufstieg der evangelikalen Bewegungen. Sie sitzt in ihrem Büro im mondänen Stadtteil Santa Teresa, und die Ironie will es, dass sie einen guten Blick auf Rios berühmte Christusstatue genießt, das Symbol des Katholizismus in Brasilien. “Die katholische Kirche reagiert langsam auf das massenhafte Überlaufen”, konstatiert sie. Sie versucht, die Evangelikalen zu kopieren, es gibt nun eine “charismatische Bewegung”. Darin geht es wie bei den Evangelikalen um eine persönlichere Beziehung zu Jesus und den Glauben an tägliche Wunder.
Dass die evangelikalen Gläubigen erst spenden müssen, um in den Genuss dieser Wunder zu kommen, scheint sie nicht zu stören. “In der Bibel steht, dass man den Zehnten opfern muss”, sagt José Bento. Dass der Gründer der Universalkirche, der selbst ernannte Bischof Edir Macedo, das teuerste Privatflugzeug Brasiliens besitzt, imponiert ihm. “Jesus hat ihn für seine Missionsarbeit belohnt.”