Mexiko: Der Mann mit der Maske

Mexiko: Der Mann mit der Maske

Moderator: Wie stellt sich Marcos sein Ende vor? Marcos: Vollständig. Moderator: Mit oder ohne Maske? Marcos: Mit Maske. Moderator: Durch Altersschwäche, Krankheit oder eine Kugel? Marcos: Durch eine Kugel.

Wie hält der Mann das aus? Es ist halb eins, und die Sonne sticht senkrecht hinunter in dieses staubige mexikanische Bergnest. Die männlichen Dorfbewohner ziehen die Hüte tiefer ins Gesicht, die Frauen drängeln sich unter Sonnenschirme. Doch Subcomandante Marcos, der Führer des Nationalen Zapatistischen Befreiungsheers (EZLN), steht zwei Stunden lang breitbeinig auf der schattenlosen Holztribüne, die man für ihn auf dem Bolzplatz von Santa Maria Ostula zusammengezimmert hat, und raucht Pfeife.

Bei seiner Ankunft in dem Indiodorf haben ihm drei Frauen Blumenketten um den Hals gelegt. Die Farben der Blüten kontrastieren mit Marcos’ schweißtreibender Kampfkleidung. Dieselbe trägt er nun schon seit dem 1. Januar 1994, als die EZLN auf die weltpolitische Bühne stürmte und der Subcomandante über Nacht zum neuen Hoffnungsträger der Linken avancierte. Das Outfit ist zum Markenzeichen geworden: zerlatschte Stiefel, schwarze Militärhose, erdfarbene Kampfjacke und zwei Digitaluhren – an jedem Handgelenk eine.

Auf Marcos’ Kopf lümmelt eine mürbe Mütze mit drei roten Sternen. Darunter die berühmte schwarze Maske, die sein Gesicht bis auf die Augen verhüllt. Einzelne Härchen piksen durch den Stoff und lassen auf einen Vollbart schließen. In Mundhöhe ragt eine geschwungene Pfeife aus der Kappe heraus, und Marcos stößt ab und an eine Rauchwolke in den Wind, der durch die Sierra weht.


Das Dorf Ostula liegt 16 Kilometer von der mexikanischen Pazifikküste entfernt im Bundesstaat Michoacán, dem Wilden Westen Mexikos. Die Gegend heißt auch tierra caliente, heißes Land. Indios vom Volk der Nahua leben hier. Und weil sie sich in Aufruhr befinden, haben sie den Subcomandante eingeladen. Großinvestoren wollen mit Unterstützung der Regierung die Gegend für den Tourismus erschließen. Häfen und Hotelanlagen sind im Gespräch. “Sie machen uns Versprechungen von Entwicklung und Fortschritt”, ruft ein junger Mann ins knirschende Mikrofon, während Marcos sich Notizen macht und qualmt. “Doch es ist ihr Fortschritt, und es ist ihre Entwicklung. Sie werden uns das Land rauben und es verwüsten. Sie werden auf unserer Kultur herumtrampeln und sich über unsere Sprache und unsere Kleidung lustig machen. Sie werden dabei reich werden und wir unendlich arm.”

Marcos ergreift das Wort: “Wir glauben, dass die Stunde gekommen ist, uns zu erheben und für den Rest der Geschichte auf den Füßen stehen zu bleiben.”

Seit Monaten macht er das nun schon so. Am 1. Januar ist Marcos im EZLN-Hauptquartier im südmexikanischen Dschungel aufs Motorrad gestiegen, um “La otra campaña” zu führen – die andere Kampagne. Sie hat ihn auf hunderte Straßen und Plätze in allen Teilen Mexikos geführt. Er hat Indios, Bauern, Studenten und Prostituierten zugehört. Sie haben ihm von Rodungen durch ausländische Holzfirmen berichtetet, von Maisimporten aus den USA zu Dumpingpreisen, von kaputten Universitäten und von sexueller Gewalt.

Marcos hat mit ihnen die mexikanische Nationalhymne gesungen, der Fahne salutiert und dann unter dem Beifall der Zuhörer zur Rebellion gegen “el mal gobierno” aufgerufen, “die schlechte Regierung, die uns seit 500 Jahren betrügt”. Dann hat eine Blaskapelle gespielt, und wenn die Versammlung am Abend beendet war, hat es Feuerwerk gegeben. Und Bohnen und Reis und Schweinefleisch oder Hühnchen.

Es ist Wahlkampf in Mexiko, und das Land mit seinen 110 Millionen Einwohnern steht am kommenden Sonntag vor einer Richtungsentscheidung.

Der planlose Präsident Vicente Fox von der katholisch-konservativen Nationalen Aktionspartei (PAN) verlässt das Amt. Beim Rennen um seine Nachfolge liegen zwei Männer gleichauf: der wirtschaftsliberale Felipe Calderón von der PAN und der Linkspopulist Andrés López Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Abgeschlagen dahinter ist der Kandidat der korrupten Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die Mexiko von 1929 bis 2000 regierte.

Marcos stellt sich nicht zur Wahl. Und wenn er es täte, hätte er kaum eine Chance. “El Sub”, wie er in Mexiko genannt wird, begleitet die mittelmäßige Show lieber wie einer, der Wasser in den Wein kippt, an dem sich alle besaufen.

Der erste Kandidat sei ein Faschist, sagt er, der dritte ein Krimineller. Und der zweite, der Kandidat der Linken, die in Mexiko noch nie an der Macht war? – Ein Opportunist. Auch er regiere von oben nach unten. Er, Marcos, aber spreche für “die dort unten”. Auf Spanisch sagt er “los de abajo” und zitiert damit den Titel des berühmtesten mexikanischen Revolutionsromans. Marcos ist auch Poet. Er hat in den vergangenen zwölf Jahren rund zwei Dutzend Bücher mit philosophischen Texten und Geschichten geschrieben. Zuletzt erschienen ist der Kriminalroman “Unbequeme Tote”, den er mit dem Schriftsteller Paco Ignacio Taibo II verfasst hat. Außerdem hat Marcos über 200 Kommuniqués, Essays und Briefe veröffentlicht. Sie trugen verwegene Titel wie: “Drei Tische für das Abendessen am Ende des Jahrhunderts.” Und sie endeten meist mit einem Hinweis, der in europäischen Ohren leicht märchenhaft klingt: “Aus den Bergen des südöstlichen Mexikos.”

Marcos ist der erste Guerillero des 21. Jahrhunderts. Und es ist diese Mischung aus Kompromisslosigkeit und Poesie, zu der sich die ganz prosaische Nutzung des Internets gesellt, die ihn dazu macht. Auf Fotos ist Marcos immer mit Maske und Pfeife zu sehen. Einen kleinen Rucksack mit Laptop muss man sich dazudenken. Per Internet verabredet Marcos mit den Profis von Inter Mailand ein Freundschaftsspiel. Oder er schreibt der baskischen Terrororganisation ETA: “Ich scheiße auf alle revolutionären Avantgardisten.” Sein ironischer Diskurs sei durchaus postmodern, sagen Wissenschaftler.

Die Geburtsstunde dieser einzigartigen Figur ist die Neujahrsnacht 1994. Damals nahmen Hunderte maskierte Indios mehrere Ortschaften im südlichen mexikanischen Bundesstaat Chiapas ein. Die Aufständischen beriefen sich auf den Bauernführer Emiliano Zapata, sie verbrannten Grundbücher, nahmen Großgrundbesitzer gefangen und veröffentlichten die “Erste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald”. Sie beginnt mit Marcos berühmten Worten: “Heute sagen wir: Basta!”

Die EZLN präsentierte sich als Produkt von 500 Jahren indigenem Kampf gegen Ausbeutung und erklärte der mexikanischen Regierung den Krieg. Die Forderungen lasen sich für Nordeuropäer wie Selbstverständlichkeiten: “Arbeit, Land, Behausung, Essen, Gesundheit, Bildung, Unabhängigkeit, Freiheit, Demokratie, Gerechtigkeit und Frieden.”

Doch im Süden Mexikos herrschen koloniale Strukturen. Unvorstellbarer Landbesitz steht der bitteren Armut der indigenen Bevölkerung gegenüber. An Bodenschätzen ist Chiapas immens reich. Doch zwei von drei Millionen Chiapanecos sind unterernährt, die Hälfte hat keinen Zugang zu sauberem Wasser, ein Drittel keine Elektrizität, und ebenso viele sind Analphabeten. “Wir standen auf, weil sie uns schlechter als Tiere behandelten”, sagt Marcos.

Die mexikanische Regierung schickte 20000 bis an die Zähne bewaffnete Soldaten gegen die 2000 indigenen Kämpfer, die teilweise mit Karabinern schossen. Nach zehn Tagen war der Krieg vorüber, zwischen 200 und 1000 Menschen waren tot.

Doch an der medialen Front hatte die EZLN den Sieg davon getragen. Marcos, der sich als Sprecher der EZLN präsentierte, verstand es, die Auseinandersetzung in einen “Krieg der Worte” zu verwandeln. In einem Geniestreich deutete er den Kampf der EZLN zum globalen Kampf für Demokratie und gegen die ungerechte Weltwirtschaftsordnung um. “Wir sind alle Zapatisten” kann man heute auf T-Shirts in Berlin, Buenos Aires oder New York lesen. Auszüge aus Marcos’ Radioansprachen sind in Rocksongs zu hören. Die EZLN wurde die erste Guerilla, die weniger Zeit mit Schießen als mit Kommunikation verbrachte.

In Schmuddelblättern bekannten Frauen derweil: “Ich würde gerne mit dem Sub schlafen – aber nur ohne Maske.” Keine Maske, das fordert auch die mexikanische Regierung zur Voraussetzung für Verhandlungen. Marcos erwiderte: “Wir waren 500 Jahre lang unsichtbar. Jetzt, da wir uns verhüllen, seht ihr uns.”

Ob und zu welchen Gelegenheiten Marcos die Maske absetzt, ist nicht bekannt. Und dennoch weiß man wohl, wer darunter steckt. Ein Jahr nach dem Aufstand der EZLN kündigte Mexikos damaliger Präsident Ernesto Zedillo eine Militäroffensive gegen die Zapatisten an und überraschte mit der Neuigkeit, dass Subcomandante Marcos in Wirklichkeit Rafael Sebastián Guillén Vicente sei, der 1957 im Staat Tamaulipas als viertes von acht Kindern einer kleinbürgerlichen weißen Familie geboren wurde.

Die Familie Guillén hatte seit 1984 keine Nachricht mehr von Rafael, der damals von zu Hause fortgezogen war, um mit Bauern vom Volk der Tzeltales und Tzotziles zu leben. Vorher hatte er in Mexiko-Stadt Philosophie studiert und als einer der fünf besten Studenten seines Jahrgangs 1981 eine Goldmedaille vom Präsidenten erhalten. Als Jugendlicher hatte er die Bücher von García Márquez und Vargas Llosa verschlungen und sich 1968 vom Massaker der mexikanischen Armee an wehrlosen Studenten beeindruckt gezeigt.

Zedillo dachte, er hätte Marcos und die EZLN mit der Enthüllung erledigt. Marcos: weder aus Chiapas, noch ein Indio. Doch der Versuch scheiterte. Auch in Ostula sagt Marcos “wir”, er meint die indigenen Völker Mexikos, und keiner der Nahuals aus dem Dorf sagt, “Du aber nicht”.

Sie wissen, dass dieser Marcos vor zehn Jahren kurz vor seinem und ihrem größten Erfolg stand. Die EZLN handelte mit der Regierung die Verträge von San Andrés aus. Darin werden den zehn Millionen mexikanischen Indios das Recht auf ihre Kultur und auf ihre Bodenschätze zugestanden. Doch die Verträge wurden vom Parlament 2001 in einer verwässerten Form verabschiedet, obwohl Millionen Mexikaner für die Annahme des Originaltextes auf die Straße gegangen waren. Seitdem hat Marcos seinen Diskurs radikalisiert, er lehnte alle weiteren Verhandlungen ab. Sein Stern sank.

Vor wenigen Tagen hat Marcos die “andere Kampagne” in Mexiko-Stadt angehalten. Mexikanische Polizeieinheiten waren in den Stadtteil Atenco eingefallen, nachdem dessen Bewohner illegalen Blumenverkäufern Schutz vor der Polizei gewährt hatten. Dabei waren Polizisten geschlagen worden. Die Sicherheitskräfte nahmen nun Rache, töteten zwei Menschen, vergewaltigten mehrere Frauen, knüppelten und inhaftierten wahllos.

Daraufhin gab Marcos dem größten mexikanischen Fernsehkanal ein Interview, das ungeschnitten ausgestrahlt werden musste. Sein “Sex-Appeal” habe ganz schön gelitten, sagte Marcos. Und als ihn der Moderator fragte, wie er sich sein Ende vorstelle, erklärte er lapidar: “Durch eine Kugel.”