Wenn es noch einen Beweis brauchte, so kam er am Dienstag. Nur wenige Stunden vor Beginn der Feierlichkeiten zu Ehren des Heiligen Georgs, dem inoffiziellen Schutzpatron Rio de Janeiros, lieferten sich die Bewohner einer Favela in Copacabana eine mehrstündige Straßenschlacht mit der Polizei.
Anlass war die vermeintliche Ermordung eines Favelabewohners durch sogenannte Befriedungspolizisten am Rande einer Schießerei mit Drogendealern. Der Heilige Georg tötete laut Legende im 3. Jahrhundert mit seiner Lanze einen Drachen. In Rio de Janeiro kann hingegen der ambitionierte Versuch als gescheitert angesehen werden, die Hydra der Drogengangs zu zerschlagen und Frieden in den Favelas zu schaffen.
Rund 40 zentral gelegene Armenviertel (von insgesamt mehreren Hundert) wollte der Staat in den vergangenen sechs Jahren unter seine Fittiche nehmen. Das Mittel dazu war die neu gegründete Befriedungspolizei, der man auftrug, die Drogengangs zu entmachten und das Vertrauen der Favelabewohner zu gewinnen, das die Militärpolizei zuvor über Jahre hinweg zerstört hatte. Man wollte die Stadt zur Fußball-WM und den Olympischen Spielen 2016 etwas sicherer und lebenswerter machen. Den Geburtsfehler der Befriedungspolizei, dass diese nämlich 100 Prozent zur Militärpolizei gehört, wollte man nicht erkennen.
Nun ist klar: Der Staat hat die Armen weiter von sich entfernt denn je. Solange seine einzige Antwort auf Kriminalität und Unsicherheit der Einsatz von Polizisten und Soldaten ist, wird sich weder in Rios Favelas noch in einer anderen der tausenden Armenviertel Brasiliens etwas ändern. Das wollen die in ihrer kolonialen Denkweise verhafteten Mächtigen dieses Landes nicht begreifen. Ohne Zugang zu Bildung und Gesundheit gibt es keine Demokratie. Ohne Gleichbehandlung von Armen und Reichen, in Brasilien immer synonym für schwarz und weiß, gibt es keinen Frieden. Und somit wird es auch keine sichere Fußball-WM geben.
Im Ausland mögen die Bilder der brennenden Barrikaden und der Polizisten, die mit scharfen Waffen auf Demonstranten zielen, überrascht haben. Manche mögen sich entsetzt gefragt haben, in was für einem Land da eigentlich die Fußball-WM in 50 Tagen angepfiffen werden soll. Das einzige, was in Brasilien für Aufsehen sorgte, war der Ort der Ausschreitungen: Die Copacabana, das Aushängeschild des Landes und vielfach verklärtes Postkartenmotiv. Hier und in den benachbarten Vierteln von Rios wohlhabenderem Süden sollen sich die Besucher während der sportlichen Großereignisse umtun. Dass weiter draußen schon seit Wochen immer wieder Schießereien zwischen Polizisten und den Limits testenden Drogengangs stattfinden; dass immer wieder Favelabewohner gegen die Willkür der UPP und den ansonsten abwesenden Staat protestieren, Straßen blockieren und Busse anstecken, wollte man lieber ignorieren. Nun ist die Schminke ab. Die Befriedungspolizei wird heute vielfach als Besatzungsmacht wahrgenommen.
Dabei ist klar, dass sich der Zorn – mal impliziert, mal expliziter – immer auch gegen die Milliardenausgaben für die Fußballweltmeisterschaft richtet. Sie bürden den Brasilianern zum Wohle der Fifa und ihrer Sponsoren eine enorme Last auf. Das nehmen die Ärmeren, die sich die Tickets zu dem Ereignis nicht leisten können, sehr viel stärker wahr. Jeden Tag fahren sie dichtgedrängt in rostigen Vorortzügen am neuen, für mehr als 330 Millionen Euro renovierten Maracanã-Stadion vorbei und fragen sich: für wen, für was? Dass es in den Waggons dann gärt, ist regelrecht zu spüren. Dies ist die Folie, vor der die Explosion an der Copacabana zu verstehen ist.