Miguel Capobiango blickt auf die zwei vibrierenden Handys in seiner Hand. „Ich bin müde geworden“, sagt er leise, „das Stadion hat mich Jahre meines Lebens gekostet“. Er drückt die Anrufe weg.
Capobiango, ein kräftiger Typ mit kantigem Kinn und kleinen unterlaufenen Augen, war über den Stadionvorplatz gekommen, hatte sich einen Helm aufgesetzt und die Arena da Amazônia über den Nordeingang betreten. Sie ist so etwas wie sein Baby, seit er vor vier Jahren zum Chef der Fußball-WM-Einheit Manaus ernannt wurde. Wäre alles nach Plan gelaufen, hätte er das Stadion schon im Dezember an die Fifa übergeben müssen. Nun – vier Tote und mehrere Hundert Millionen Reias später – ist Mitte Mai angepeilt. „Es fehlt nur noch die Schminke“, sagt Capobiango.
Er lässt sich auf einen Klappsitz fallen, Nordkurve, Unterring, Sektor 132, Platz 5. Auf den oberen Rängen kreischt eine Metallsäge, unten rücken Arbeiter die Bänke für die Ersatzspieler am Spielfeldrand zurecht. Am Abend soll ein Testmatch stattfinden, das bisher vierte, sagt Capobiango. Sein Sitz leuchtet in hellem Maracujagelb. Andere Plastikschalen tragen das Gelborange der Papaya, sind orangerot wie die Kaschufrucht oder blutrot wie der Rosenapfel. Sieben Farben lassen sich im Oval ausmachen. Sie repräsentieren die Früchte Amazoniens, Brasiliens größtem Bundesstaat, in dessen Zentrum Manaus liegt, der wohl merkwürdigste und am wenigsten verstandene Austragungsort dieser Fußball-WM.
„Früchtekorb“, sagt Capobiango und muss lächeln. So haben die Manauaras, die Bewohner von Manaus, die Arena getauft, die weithin sichtbar neben einer vielbefahrenen Ausfallstraße liegt. Mit ihren über Kreuz laufenden Stahlstreben gleicht sie tatsächlich einem geflochtenen Korb. „Vielleicht von Indio-Frauen“, sagt Capobiango.
Form und Farben sind die heitere Seite eines WM-Orts, der wie kein zweiter verflucht worden ist. Von Ottmar Hitzfeld, dem Trainer der Schweiz, der Manaus wegen des tropischen Klimas „fast unverantwortlich“ nannte – eine schweizerische Zeitung schrieb vom „Todes-Stadion im Dschungel“; und von Roy Hodgson, dem englischen Coach, der Manaus „idealerweise vermeiden“ wollte und dessen Team nun hier gegen Italien antreten muss.
Auch Miguel Capobiango hat das Stadion bisher mehr Sorgen als Freude bereitet. In Brasilien dauert vieles länger“, sagt der 51-Jährige. „Und in Manaus dauert es extra lang. Wir liegen ja etwas ab vom Schuss.“ Es ist nicht ganz klar, ob das „etwas ab vom Schuss“ eine ironische Untertreibung sein soll.
2007 kürte der Fußballweltverband Brasilien zum Austragungsland der WM 2014. Zwei Jahre später wurden die zwölf Spielorte bestimmt. Die Fifa hatte zwar nur acht bis zehn verlangt, doch die Brasilianer sagten: Wir schaffen ein Dutzend. Die Spielstätten sollten gleichmäßig über die riesige Nation verteilt werden, wie es sich für eine föderale Republik mit starken Antagonismen zwischen Nord und Süd, zwischen Küsten und Landesinnerem gehört.
Und so wurde ganz im Norden, mitten im Amazonasdschungel, dort wo der mächtige Rio Negro und der ebenso grandiose Solimões zusammenströmen, was sie ihre Namen büßen lässt und was sich überhaupt nur aus der Luft vollständig überschauen lässt, Manaus erwählt. Aus Rio de Janeiro kommend überfliegt man zwei Stunden lang nichts als das dichte Dach des Regenwalds, einzig ununterbrochen von den Schlangenlinien unzähliger Flüsse. Der nächste Spielort, Brasilia, liegt 1500 Kilometer entfernt.
Oberflächlich betrachtet ergab die Entscheidung für Manaus Sinn. Im Norden Brasilien existiert keine wichtigere Stadt. Manaus ist ja kein Nest im Dschungel, sondern eine weit in die Fläche ausgreifende Handelsstadt. Wenn man nicht gerade im quirligen alten Hafen mit seinen Hunderten Flussfähren steht, kriegt man überhaupt nicht mit, an was für einem geografischen Sonderfall man sich befindet. Zwei Millionen Menschen leben in Manaus, Tendenz steigend, aus ganz Brasilien kommen sie auf der Suche nach Jobs geströmt. Es gibt gigantische Shoppingcenter, abgeschottete Luxusviertel und grautriste Favelas.
Manaus’ Motor ist eine 1967 eröffnete Freihandelszone. In fensterlosen Hallen schrauben und schweißen dort 120.000 Arbeiter Computer, Fernseher und Motorräder für asiatische Konzerne zusammen. Über den Amazonas schieben sich die Ozeanfrachter mit den Produktionskomponenten und wirken doch wie Spielzeuge.
Dennoch meldeten sich nach der Entscheidung für Manaus sofort die Kritiker: zu heiß und feucht, zu teuer für vier Vorrundenspiele, kein Konzept für die Nachnutzung. Studien identifizierten die Amazonas-Arena schnell als „Weißen Elefanten“ – als Stadion, das nach der WM nicht mehr gebraucht, aber der Öffentlichkeit horrende Kosten verursachen werde. Zu allem Überfluss verlangte die Fifa noch zwei weitere Stadien als Trainingszentren für die gastierenden WM-Teams. Als man wenige Tage später eins der Stadien mit Namen Coroa aufsucht, versteht man, warum Capobiango schlaflose Nächte hat. Da wird noch gemauert, Stahlstreben ragen aus dem Rohbau, Bagger kurven umher. Bis zur WM wird Coroa niemals fertig.
In einem Supermarkt neben dem Rohbau kauft man Wasser. Obwohl Manaus im April nicht übermäßig heiß ist, um die 30 Grad, zerrt die Luftfeuchtigkeit an den Nerven, erzeugt ein ständiges Erschöpfungsgefühl. „Ach was“, schimpft der Supermarktbesitzer, ein fülliger Mann, als man ihn fragt, ob er sich auf die WM freue. „Diese Copa der Korruption. Diese Verarsche 2014.“ Früher, ja, da habe er sich gefreut. „Aber was danach gelogen und geklaut wurde, ist eine Riesenschweinerei. Die Fifa-Raubritter saugen uns aus.“ Vielleicht muss man sich langsam wirklich Sorgen um diese WM machen, wenn einfache Menschen, willkürlich angesprochen, derart heftig reagieren. „Ein schönes Stadion haben wir da“, ruft der Mann. „Wir brauchen keine Schönheit, wir brauchen Schulen und Krankenhäuser.“
Der Satz ist in Brasilien zum Allgemeinplatz geworden, auch wenn es in Manaus natürlich andere Stimmen gibt. Im kleinen Hotelviertel oberhalb des schmuddeligen Hafens freut sich der Besitzer einer Pension, seine Zimmer seien zu den vier Spielen ausgebucht. Aber wirklich brauchen tue er das Ereignis nicht. „Ich habe immer Gäste aus dem Hafen.“
Wie überall in Brasilien wurde auch in Manaus versucht, die Kritik an der WM mit dem Versprechen zu besänftigen, den öffentlichen Transport zu verbessern. In Manaus kündigte der Gouverneur den Bau einer Schwebebahn vom Flughafen ins Zentrum und am Stadion vorbei an. Sie wird dringend benötigt, zu Stoßzeiten schieben sich Blechlawinen durch Manaus, die von Abgasen verseuchte Luft ist dann kaum zu atmen.
„Es wäre schön, wenn die Bahn gekommen wäre“, sagt Miguel Capobiango. „Wir hatten andere Probleme.“ Ein Knacken dringt durchs Stadion. Die Lautsprecheranlage wird ausprobiert, doch der Sound lässt zu wünschen übrig. „Um, dois, três“ hallt es diffus vom Stadiondach herab. Capobiango scheint es nicht zu hören. „Stellen Sie sich das mal vor“, sagt er, „2010 hatten wir fertig geplant, aber es dauerte zwei Jahre bis das erste Geld freigegeben wurde.“ Die brasilianische Bürokratie ist berüchtigt für ihr Schneckentempo.
Ebenso berüchtigt ist die brasilianische Korruption. Bei zehn der zwölf Stadionbauten verschwanden teils erhebliche Summen weil Baufirmen überhöhte Rechnungen ausstellten und die günstigen Kredite der Entwicklungsbank BNDES zur Aufstockung ihres Eigenkapitals verwendeten. „Sie wissen mehr als ich“, hält Capobiango sich bedeckt und schiebt den Kostenanstieg in Manaus auf „Planungsanpassungen“. Er blickt zu den mächtigen Stahlträger empor, die die Dachkonstruktion halten. „Die sind mit dem Schiff aus Portugal gekommen.“
Capibiango deutet auf eine Stelle an der Dachkante. „Von dort stürzte der Arbeiter ab, 35 Meter, er war nicht abgesichert.“ Ein anderer Arbeiter verunglückte tödlich als er durch einen Treppenschaft fiel, „das geschah hier hinter uns, Leichtsinn“, sagt Copibiango. Ein dritter Arbeiter wurde beim Abbau eines Gerüsts erschlagen. Einen vierten Toten will Copibiango nicht in seine traurige Bilanz aufnehmen. Er erlitt einen Herzinfarkt auf einem zur Arena gehörenden Kongresszentrum. Mit vier Toten wäre Manaus das tödlichste Stadion dieser WM, womit das Verdikt vom „Todes-Stadion“ auf ganz andere Weise wahr würde. Mit „nur“ drei gezählten Toten läge Manaus gleichauf mit dem Stadion in Säo Paulo. Hier wie dort klagten die Gewerkschaften über den riesigen Druck wegen des Zeitrückstands.
Ursprünglich sollte die Arena da Amazônia 499 Millionen Reais kosten. Am Ende wurden es 670 Millionen Reais, 218 Millionen Euro. Die Schulden begleicht nun 20 Jahre lang der Steuerzahler, weil auch in Manaus das Versprechen gebrochen wurde, den Stadionbau privat zu finanzieren. Ebenso wenig halten konnte man die Zusage, das umweltfreundlichste Stadion des Landes zu errichten. „Wie sollten wir die Solaranlage auf dem Membrandach installieren? Dann wäre ja kein Sonnenlicht mehr hindurch gefallen“, erklärt Capobiango.
Derjenige, der all das konzipiert hat, drängt sich am Nachmittag in den schmalen Schatten eines Kontrollhäuschens an der Stadionauffahrt und wischt sich den Schweiß aus der Stirn. Hubert Nienhoff ist Partner bei gmp, einem der renommiertesten deutschen Architektur-Büros. Drei Stadien hat gmp in Brasilien konzipiert: in Belo Horizonte, Brasilia und Manaus. Nienhoff, für letzteres verantwortlich, hat gerade einige Mitarbeiter durch die Arena geführt, die aus Deutschland angereist sind.
Zehn Minuten habe er, sagt Nienhoff, ein schlaksiger 55-Jähriger mit dichten Augenbrauen und Stoppelbart. In Berlin hat Nienhoff den Pannenflughafen BER entworfen, doch hier, mitten im Amazonas, ist Berlin weit weg und Nienhoff gelöst. Besonders freue ihn ja der „Früchtekorb“, sagt Nienhoff, der Spitzname der Arena. Es zeige, dass der Bau mit seinen „biomorphen Strukturen“ von den Menschen angenommen werde. Das Stadion sein eins der schönsten der WM, trotz der Kritik.
Gmp hat Erfahrung mit Stadionbauten in korrupten Ländern – Aserbaidschan, China, Südafrika – und Nienhoff benutzt eine schöne Metapher für die bei solchen Projekten notwendige Biegsamkeit: „Man kann zu Sambaklängen nicht Walzer tanzen.“ Das Stadion entspreche jedenfalls nicht dem Wert des ausgegebenen Geldes.
Was ist das Vermächtnis der Arena da Amazônia?
Hubert Nienhoff: „Wir schaffen nur Möglichkeiten. Über das, was bleibt, entscheiden die Brasilianer.“
Miguel Copibiango: „Wir schaffen Sichtbarkeit für Manaus.“ Er rechnet mit 20000 auswärtigen Besuchern pro Spiel. Um sie aufzunehmen sind sechs neue First-Class-Hotels entstanden, und auf dem Rio Negro werden Kreuzfahrtschiffe ankern.
„Die entscheidende Frage ist doch, wer das Ganze bezahlt“, sagt Junia Dvale.
Die 24-Jährige ist mit drei Mitstreitern zur größten Touristenattrakion von Manaus gekommen, 15 Taximinuten vom Stadion entfernt. Dort thront auf einer Anhöhe das rosa gestrichenen Teatro Amazonas mit der schindelbesetzten bunten Kuppel. 1896 wurde der neoklassische Bau eröffnet, Manaus war dank des Kautschukbooms die reichste Stadt der Welt, die Zufahrt zum Theater ließ man mit Gummi pflastern, damit das Geklapper der zu spät eintreffenden Kutschen die Vorführungen nicht störte.
Cineasten kennen das Theater aus der Eröffnungsszene von „Fitzcarraldo“, Werner Herzogs Film von 1982. Klaus Kinski eilt da mit Claudia Cardinale und wirrem Haar in den Bau – nur um die letzten Minuten von Verdis „Ernani“ zu erleben. Tatsächlich war Caruso nie in Manaus, dafür inszenierte Christoph Schlingensief hier vor einigen Jahren „Den fliegenden Holländer“.
Von „Fitzcarraldo“ haben weder Junia Dvale noch die drei anderen ja gehört. Sie bilden den harten Kern der Protestbewegung gegen die WM, die sich in Manaus formiert hat und „Vem Pra Rua“ nennt: Komm auf die Straße. Dvale ist die Sprecherin der Gruppe, auch wenn die Informatikstudentin mit den indianischen Zügen das nicht gerne hört. Man sei horizontal organisiert, habe 18.600 Freunde bei Facebook und könne auf der Stelle 200 Leute mobilisieren.
Wie in anderen Städten entstand die Bewegung als der Preis für die Bustickets erhöht wurde – und bündelte dann schnell die Unzufriedenheit über die Millionenausgaben für die WM. Zum größten Protestmarsch strömten laut Polizei 100.000 Menschen, Dvale spricht sogar von 200.000. So oder so war es die mächtigste Demonstration in der Geschichte von Manaus. Darauf sind Dvale und die anderen stolz. „Wir sind eine neue Generation“, formuliert sie. „Wir erleben wie alle einfachen Brasilianer die täglichen Schwierigkeiten, aber wir haben begonnen uns zu wehren.“
Dvale benennt den wohl größten Widerspruch: „Warum baut man ein Stadion mit 44000 Sitzplätzen und 70 Vip-Logen in einer Stadt, deren bestes Team in der vierten Liga spielt und einen Zuschauerschnitt von 2000 hat?“
Miguel Capobiango würde antworten, dass man Erstligateams aus Rio de Janeiro und Säo Paulo einfliegen lassen werde, weil diese in Manaus riesige Fangemeinden haben. Doch ob man mit Gastspielen den Unterhalt des Stadions bestreiten kann, weiß niemand. Der wird auf monatlich 500000 Reais geschätzt, rund 200000 Euro. „Den werden wir, die Bürger, zahlen“, sagt Junia Dvale, „und die Schwebebahn wird nie kommen“.
Dvale muss los, sie jobbt in einem Imbiss, weil sie mit ihrem Stipendium in Manaus, einer der teuersten Städte Brasiliens, nicht über die Runden kommt. Zum Abschied kündigt sie an, dass man zur WM wieder Aktionen plane. Besonders die Menschen in den armen Stadtteilen seien wütend. „Die sehen den Widerspruch zwischen ihren Vierteln ohne Asphalt und Abwasserkanäle und dem Millionenstadium“, glaubt Dvale.
Am Abend spielt Manaus’ bestes Fußballteam Nacional im brasilianischen Pokalwettbewerb gegen Esporte São Luiz aus dem Süden Brasiliens, 3000 Kilometer entfernt. Die Tickets kosten umgerechnet 20 Euro und im unteren Stadionring verlieren sich knapp 2000 Fans. Dabei wurde auch in Manaus einmal Erstligafußball gespielt, in den siebziger Jahren war das. Nacional maß sich mit den Großen im Stadion Vivaldo Lima, Fassungsvermögen 31000 Zuschauer.
Nun ist das Vivaldão, wie es in Manaus genannt wurde, der WM-Arena gewichen, es entsprach mit seinen Stehplätzen nicht den Anforderungen der Fifa. Aber die Fans im Stadion vermissen es nicht. Zwei Männer in Nacional-Trikots sagen: „Hier ist die Belüftung besser.“ Nun hoffen die beiden dass ihr Club am neuen Stadion wachse. Einer sagt: „Die Amazonas-Arena ist schön.“ Der andere erwidert: „Hat uns ja auch ‘ne Stange Geld gekostet.“