50 Jahre Putsch: die Spuren der Folter

50 Jahre Putsch: die Spuren der Folter

Als sie zum vierten Mal verhaftet wurde, kannten die Militärs kein Pardon mehr. Sie schlossen ihre rechte Brust an ein Kabel an und jagten Strom hindurch. „Ich sollte meinen Mann verraten“, sagt Carmem Amaral.

Das war 1974 in São Paulo, die damals 28-Jährige war in ein Foltergefängnis des brasilianischen Geheimdienstes geraten. Ihre Peiniger nannten sich Doktor Romero und Kapitän Ubirajara. Sie drohten auch damit, Amarals einjährigen Sohn zu misshandeln.

Amaral sitzt heute am Fenster ihrer Wohnung in Rio de Janeiro und schaut auf die Christus-Statue, von der es manchmal heißt, sie würde ihre Arme ausbreiten, aber nie jemanden umarmen. Seit 2007 erhält sie eine monatliches Schmerzensrente vom brasilianischen Staat. „Nur Gerechtigkeit gibt es nicht“, sagt sie, „Ubirajara ist bis heute auf freiem Fuß, und der Geist der Diktatur lebt fort.“

1964 hatte das brasilianische Militär gegen den Präsidenten João Goulart geputscht, dem es kommunistische Umtriebe vorwarf, weil er unter anderem eine notwendige Bodenreform anstrebte. Die wirtschaftliche Elite, die Medienhäuser, die katholische Kirche und die US-Regierung unterstützen den Umsturz, US-Kriegsschiffe lagen vor den Küsten und sicherten ihn ab. An diesem Montag und Dienstag jährt sich das Ereignis nun zum 50. Mal, es ist nur nicht ganz klar, mit welchen Gefühlen, mit welcher Haltung das Land der Katastrophe begegnet, mit der die „bleiernen Jahre“ begannen.

In vielen Leserbriefen liest man dieser Tage, dass der Putsch die einzige und richtige Lösung gewesen sei, einen Umsturz von Links zu verhindern. Im Radio reden sie naiv über das Aufblühen der brasilianischen Kultur unter dem Regime, etwa in der Tropicalismo-Bewegung – so als ob diese Blüte nicht eine Reaktion auf die Unterdrückung gewesen sei. Unverblümt warnt ein Armeegeneral in einem Manifest davor, dass die sozialen Bewegungen von Studenten, Landlosen, Gewerkschaften und Indios zu viel Macht besäßen.

Und dann versuchten vor wenigen Tagen auch noch einige Unverbesserliche den „Marsch der Familie mit Gott“ neu aufzulegen. Unter diesem Motto hatten 1964 eine Million Brasilianer für einen Schlag der Sicherheitskräfte gegen die Regierung demonstriert. Mit derselben Begründung verlangte man nun den Sturz von Präsidentin Dilma Rousseff. Einige hundert Menschen kamen in verschiedenen Städten zusammen, und die Militärpolizei, die sich gut mit den Putschfans zu verstehen schien, machte Jagd auf Gegendemonstranten. Der Marx’sche Satz von der Geschichte als Tragödie und Farce schien nie wahrer zu sein.

Carmem Amaral ist eins von rund 2000 Folteropfern der Diktatur. Über die Zahl der Ermordeten gibt es bis heute Unklarheit. Ging man lange Zeit von 357 Toten aus, vorwiegend linke Oppositionelle und Guerilleros, zählte man 2012 mehr als 600 weitere Opfer hinzu: Bauern, Gewerkschafter, Dorfpfarrer, Umweltschützer, die in abgelegenen Regionen umgebracht worden waren. Eine neue Rechnung inkludiert nun auch tausende ermordete Indios, die den Infrastrukturprojekten der Diktatur im Wege standen, etwa Staudammbauten im Amazonas.

Wegen dieser im Vergleich zu den Diktaturen in Chile und Argentinien geringen Opferzahlen hat die renommierte Tageszeitung „Folha de S. Paulo“ das brasilianische Militärregime als „sanfte Diktatur“ bezeichnet. „Es gibt keine Diktatur light“, widerspricht Amaral, deren Cousin als Guerillero kämpfte und von der Armee getötet wurde.

Amaral engagiert sich heute in der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB), der auch Sportminister Aldo Rebelo angehört. Er ist für die Organisation der Fußball-Weltmeisterschaft verantwortlich, was er mit horrenden Ausgaben von öffentlichen Geldern und gleichzeitiger Privatisierung der Gewinne jedoch alles andere als allgemeinverträglich hinkriegt.

Wenn das Riesenevent am 12. Juni in São Paulo beginnt, wird Rebelo gemeinsam mit Präsidentin Dilma Rousseff auf der Tribüne stehen. Neben ihnen wird dann ein Greis kalt lächeln, der hinter Gittern besser aufgehoben wäre. José Maria Marin ist nicht nur Präsident des von Korruption durchdrungenen brasilianischen Fußballverbands CBF, sondern spielte auch in der Militärdiktatur eine dubiose Rolle. 1975 trug er als Politiker im Landesparlament von São Paulo mit seinen Reden dazu bei, dass der Fernsehjournalist Vladimir Herzog festgesetzt und im Gefängnis ermordet wurde. Marin gehörte damals der Arena-Partei an, dem politischen Sammelbecken der Militärjunta. Der für Herzogs Tod verantwortliche Polizeichef hieß Sérgio Fleury. Über ihn sagte Marin in einer Rede: „Wir sind sehr stolz darauf, dass er für unsere Polizei tätig ist.“ 1979, sechs Jahre vor dem Ende der Diktatur, wurde Marin Vizegouverneur von São Paulo, 1982 übernahm er das Gouverneursamt.

Die Fußball-WM zwingt nun zusammen, was nicht zusammengehört. Mit Roussef und Marin werden zwei gegensätzliche Kulturen, zwei sich bis heute unversöhnlich gegenüberstehende Brasilien aufeinander treffen. Rousseff selbst saß als Angehörige einer Stadtguerilla Anfang der Siebziger drei Jahre in Haft und wurde misshandelt. „Die Spuren der Folter sind ein Teil von mir“, sagte sie in ihrer bis heute einzigen persönlichen Einlassung zu dem Thema.

Rousseff war es auch, die vor zwei Jahren die überfällige brasilianische Wahrheitskommission ins Leben rief, welche die Verbrechen während der Diktatur aufdecken soll. Dort erscheinen nun gezeichnete Opfer und ungebrochene Täter, die auf freiem Fuß sind, weil die Diktatur sich schon 1979 ein Amnestiegesetz verpasste, das bis heute in Kraft ist. Während CBF-Präsident Marin sich hartnäckig weigert, vor der Kommission zu erscheinen, leugnet Kapitän Ubirajara, der Peiniger Carmem Amarals, seine Taten. Einen seltenen Fall von Offenheit erlebten die Brasilianer vor wenigen Tagen, als Oberst Paulo Malhães im Rollstuhl vor der Kommission in Rio de Janeiro saß. Ohne Hemmungen sagte der 76-Jährige, der in einem Folterzentrum gearbeitet hatte: „Wir haben so viele umgebracht, wie nötig war.“

So ein Satz mag im mitteleuropäischen Kontext heute horrend wirken. In Brasilien hört man ihn häufiger: von Elitepolizisten etwa, die in Favelas einrücken und Drogendealer unter dubiosen Umständen erschießen. Nirgends ist der Geist der Diktatur so lebendig wie in Brasiliens Militärpolizei, die mit einer Kriegslogik operiert, die nur Freund und Feind kennt, aber weder Bürger noch ihre Rechte. Besonders deutlich wurde der repressive Charakter bei den Massenprotesten letztes Jahr, als es der Polizei vor allem darum zu gehen schien, das Demonstrationsrecht gewaltsam auszuhebeln.

Nun marschieren, zum 50. Jahrestag des Putsches, wieder Soldaten auf Brasiliens Straßen. Weil das Vorhaben zu scheitern droht, Rio de Janeiros Favelas durch die sogenannte Befriedungspolizei UPP unter Kontrolle zu bringen, soll es nun die Armee richten. Waffenstarrende Soldaten rückten in den Favelakomplex Maré ein, der auf dem Weg von Rios internationalem Flughafen in die Innenstadt und damit für die WM-Besucher teilweise einsehbar liegt. Im Jahr der WM haben die Mächtigen auf die sozialen Probleme Brasiliens wieder nur eine Antwort: Unterdrückung.