Der Busfahrer greift ins Fach mit den Kassetten. Nach längerem Wühlen lässt er ein Tape im Recorder verschwinden.
Der Lautstärkeregler wird nach rechts gedreht, und es rumpelt im Dreivierteltakt los: Umtata-Um-tata. Walzer mexican-style. Oder Corrido, wie man hier sagt. Draußen flimmert die Wüste, ein toter Esel verwest am Wegesrand, Chihuahua ist noch vier Stunden entfernt. Um-tata-Um-tata.
Von deutschen Einwanderern im 19. Jahrundert in den Norden Mexikos gebracht, ist der Corrido zur Nationalmusik Mexikos geworden. Aufgepeppt mit einem fröhlichen Akkordeon, das Gitarre, Bass und Schlagzeug begleitet, kommt er mal als flotter Walzer, mal als zünftige Polka daher. Zumindest nördlich von Mexiko-City gibt es kein Entrinnen mehr. In der Kneipe, beim Friseur, im Taxi, durch die Schlafzimmerwand der Nachbarwohnung, überall der Imperativ des Um-tata-Um-tata.
Und um es gleich zu sagen: Der Corrido nervt. Wahrscheinlich würde auch niemand ein Wort verlieren über ihn, wenn nicht seit einigen Jahren eine Unterart des Corrido, der Narcocorrido, für Aufregung sorgte. Im Narcocorrido geht es um Narcos und Narcoticos, also um Drogenhändler und Drogen. Die Songs erheben Drogenbosse in den Stand von Heiligen und feiern ihre Mordtaten als
Mordstaten, den Anbau und Schmuggel von Rauschgift rühmen sie.
Trotzdem oder gerade deswegen sind die Narcocorridos ungemein erfolgreich. Es gibt kaum eine Norteno-Band (so nennt man Gruppen, die Corridos spielen), die nicht einen im Repertoire hat. Andere Bands widmen sich dem Genre fast ausschließlich – und verkaufen Millionen von CDs und Kassetten. Nicht nur in Mexiko, sondern auch bei der mexikanisch-stämmigen Bevölkerung in den USA. Die mexikanische Regierung muss sich dabei vorkommen wie der Förster, dem man jeden Tag in die Schonung scheißt.
Seit Präsident Miguel de la Madrid 1987 den Drogenhandel als Bedrohung für die nationale Sicherheit ausmachte, führt die Regierung – vor allem auf Druck der USA – einen erbitterten Kampf gegen das Rauschgift. Ein Drittel des Verteidigungshaushalts werden dafür jährlich ausgegeben. Mehr als 25 000 Militärs sind mit dem Aufspüren illegaler Plantagen beschäftigt.
Doch der Krieg gegen die Drogenkartelle ist ausweglos. Erstens hat man es mit einem ungleich stärkeren Gegner zu tun. Die US-Drogenbehörde Drug Enforcement Agency (DEA) schätzt den Jahresumsatz der mexikanischen Kartelle auf rund 30 Milliarden Dollar. Das entspricht zehn Prozent des mexikanischen Bruttoinlandprodukts oder einem Drittel der legalen Exporterträge. 350.000 Mexikaner leben mittlerweile direkt oder indirekt vom Drogenhandel.
Zweitens haben die Kartelle zweitens ein Netz von Mitarbeitern aufgebaut. Sie bestechen Polizisten, Staatsanwälte, Richter und Politiker, bis in die höchsten Ebenen. Und drittens gilt auch im Drogenhandel das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Solange man im reichsten Land der Erde USA nicht ohne Drogen auskommt, wird der arme Nachbar liefern.
Studien zufolge bauten Mitte der neunziger Jahre zwischen vierzig- und fünfzigtausend mexikanische Bauern Mohn oder Hanf an. Für den Betrag, der ihnen ein Kilo Marihuana einbringt, müssten sie eine Tonne Mais ernten. In dieser Situation kommen Gruppen wie die Tucanes de Tijuana gerade recht. Mario Quintero quakt (und der ganze Bus hört zu und grinst): „Tengo plantios a la vista pa’ despistar al gobierno y cada vez que los queman los vuelvo a plantar de nuevo. Ellos
piensan que me arruinan, !no saben que hay cerros llenos…!“ – „Ich habe Pflanzungen, die kann jeder sehen und die Regierung fällt drauf rein. Sie kommen, um sie zu verbrennen, und ich pflanze sie erneut. Sie denken, sie machen mich fertig und wissen nicht, dass die Hügel voll damit sind…!“
Ironie ist das letzte, was die mexikanische Regierung auf ihrem Feldzug gegen Mohn und Marihuana gebrauchen kann. Deshalb hat sie die Radiosender aufgefordert, Narcocorridos aus dem Programm zu werfen. Die Sender gehorchen. Sie sind auf Lizenzen vom Staat angewiesen und zensieren sich lieber selbst. Das tut bloß dem Geschäft keinen Abbruch. Die Tukane aus Tijuana gehören gerade wegen ihrer Narcocorridos zu den bekanntesten Gruppen Mexikos, ihre CDs und Kassetten gehen weg wie Freijoints. Daneben gibt es Hunderte von Bands, die sich als Kenner des organisierten Verbrechens ausweisen: Los Huracanes del Norte, Banda Exterminador, Raza Obrera – und natürlich Los Tigres del Norte.
Die in Kalifornien beheimateten Tigres gelten als die Urväter des Narcocorrido. 1972 nahmen sie den Song „Contrabando y Traicion“ auf („Schmuggel und Verrat“), den ersten Hit des Genres. Es dürfte kaum einen Mexikaner geben, der nicht schon einmal seine ersten Zeilen gehört hat: „Salieron de San Ysidro, procedentes de Tijuana, traian las llantas del coche repletas de mariguana. Eran Emilio Varela y Camelia ,La Texana’.“ – „Sie verließen San Isidro, kamen gerade aus Tijuana und die Räder des Wagens waren voller Marihuana. Sie, das waren Emilio Varela und Camelia ,die Texanerin’.“
Mittlerweile zählen die Tigres fast schon zum alten Eisen. Während sie Einladungen von Drogenbossen stets ablehnten und sich auch nie mit Waffen ablichten ließen, gehört es unter jüngeren Gruppen zum guten Ton, mit Sturmgewehren zu posieren. Andere lassen sich von Drogenkartellen fördern. Jesus Garcia, Manager der Band Juventud Norteno aus Culiacän, spricht es im Interview mit der „Baltimore Sun” offen aus: Jede Gruppe, die groß rauskommen will, muss sich von einem Drogenboss sponsern lassen. Sonst spielt sie ihr Leben lang in Kneipen.“
Bei allem Unwohlsein über die Nähe von Musikern und Mördern, der Narcocorrido hat eine alte mexikanische Tradition zu neuem Leben erweckt Die ältesten bekannten Corridos stammen aus der Mitte des 19. Jahrhundert, die Wurzeln der Musik reichen jedoch bis in die Zeit der Conquista zurück. Eine Symbiose zwischen pre-hispanischer Lyrik und spanischen Romanzen fand damals statt und begründete eine orale Tradition, an die die Corridos später anknüpften. Der Corrido erlebte seine Blüte während der mexikanischen Revolution. Er versorgte wie eine Zeitung die Bevölkerung mit Informationen über die Ereignisse. Die Lieder berichteten von den Heldentaten der Revolutionäre und der Niedertracht der Federales, den Regierungstruppen. Man besang Francisco Madero. Pancho Villa und Emiliano Zapata und verklärte sie ins mythenhafte. Der Corrido entwickelte sich zu einer Art populärer Poesie, zu einer spezifisch mexikanischen Literaturform. Die allerdings ab den dreißiger Jahren immer mehr verkitschte. Bald ging es nur noch um die Liebe.
An amerikanischen Universitäten widmet man der Gattung des Narcocorrido inzwischen Seminare. Ähnlich dem Gangsta-Rap wird die Musik als Teil einer (Gegen-)Kultur gewertet, die sich ihre eigenen Codes und Normen geschaffen hat. Da Staat und Medien die Unterwelt tabuisieren, erhöht sich ihre Attraktivität natürlich. Fast ausschließlich Männer ahmen den Stil der Kartellbosse und ihrer Lakaien nach. Man trägt Schnauzer, Cowboyhut und Seidenhemd. Eine tellergroße Gürtelschnalle prangt überm Gemächt. Man fährt im Pick-up mit verdunkelten Scheiben vor. Schlangenlederstiefel klappern auf dem Pflaster. Gerade im Norden Mexikos eine alltägliche Szene.
Einen Schutzheiligen haben die Schmuggler auch. In Culiacän, Sinaloa, steht die Kapelle für Jesus de Malverde, einen angeblich großherzigen Banditen, der 1909 aufgehängt wurde. Er ist der Narcosanton (der große Narcoheilige), der über die nächste Lieferung Koks wacht und Schutz bietet, wenn mal wieder geschossen wird.