Mexiko/USA: Auf der Linie

Mexiko/USA: Auf der Linie

In der Nacht wird Paco es wieder versuchen. „Ich war vorgestern schon drüben“, sagt er und zeigt auf ein Loch in der roten Erde.

„Hier bin ich durch und dann mehrere Kilometer durchs Gebüsch gerobbt. Der Nebel war so dicht, dass sie mich mit ihren Ferngläsern nicht sehen konnten. Aber in San Diego bin ich in der Innenstadt kontrolliert worden“, Paco streicht sich verlegen den Schnauzer, „die zerrissenen Jeans haben mich wohl verraten“.

Die US-Einwanderungsbehörde hat ein Foto von Paco und seine Fingerabdrücke in ihren Computer eingespeist. Dann ist er mit der allabendlichen Fuhre „Illegals“ zurück nach Mexiko deportiert worden.

Jetzt steht der 34-Jährige erneut vor dem kleinen Tunnel, der unter dem rostigen Blechwall durchführt. Jemand müsse das Loch erst kürzlich gegraben haben, erklärt er. „Sonst hätten es die Grenzschützer schon längst entdeckt und mit Beton aufgefüllt.“ Paco, der eigentlich Maisbauer ist, ist zum alten Hase geworden, was den undokumentierten Grenzverkehr zwischen Mexiko und den USA angeht: Zum fünften Mal will er nun schon über die „linea“, wie sie hier, an der Grenze heißt: die Linie. Zwei Mal hat er sie in Richtung Norden überschritten, zwei Mal ist er nach Mexiko zurückgekehrt. Am Ende der Woche will er wieder in den USA sein.

Paco kneift seine kleinen schwarzen Augen zusammen und deutet auf die weißen Jeeps der Border Patrol, die alle zwei Kilometer entlang der Mauer stehen. Er hat herausgefunden, wann sie ihre Positionen tauschen und dass die Grenzschützer schon mal in der Mittagssonne einnicken. Er weiß, wo Kameramasten aufragen und welche Korridore die Helikopter abfliegen. Wann aber wieder
das richtige Wetter kommt – „am liebsten eine dicke Suppe mit schweren Dunstschwaden“, – das weiß der kleine sehnige Mann mit den hohen indianischen Backenknochen nicht, dessen eigentlicher Vorname Francisco ist. Im Spanischen wird daraus häufig der Spitzname Paco. Sein Nachname soll hier nicht genannt werden, die Behörden könnten auf ihn aufmerksam werden.

Gestern hat Paco hundert Meter von „seinem“ Tunnel entfernt eine schwarze Plastikplane entdeckt. Einer seiner Vorgänger hat sie von der Mauer zum Boden gespannt. Nun dienst sie Paco als Unterschlupf. Als er vor vier Jahren zum ersten Mal hier war, um rüberzumachen, hatte er keine Ahnung, wie schwierig es werden würde. „Ich kannte nur die alten Geschichten, dass man einfach mit Hundert anderen die Grenzpolizei überrennt. Aber das war früher, vor ,Operation Gatekeeper’.”

Mitte der neunziger Jahre merkte Paco, dass sein Land ihn nicht mehr ernähren kann. Die Preise für den Mais, den er anbaute, waren wegen der billigen Importe aus den USA im Keller. Mexiko musst sie laut NAFTA, dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen, ins Land lassen. „Ich hatte also die Wahl“, Paco zwinkert mit den Augen, „entweder Marihuana anbauen, nach Mexiko-Stadt ziehen oder nach Norden gehen“. Wie viele mexikanische Bauern entschied sich Paco für den Weg nach Norden.

Pacos Dorf liegt im Bundesstaat Guanajuato, im Zentrum Mexikos. Er ist einer der klassischen mexikanischen Sendestaaten, Arbeitsemigration in die USA ist hier seit mehr als 50 Jahren ein Wirtschaftsfaktor. Auch aus Pacos Dorf waren im Lauf der Jahre immer wieder junge Männer emigriert. Neu war aber nun, dass fast die gesamte männliche Bevölkerung und ein Dutzend junger Frauen des Dorfes abwanderten. Paco fiel es einfacher zu gehen als anderen. Er war nicht verheiratet, hatte keine Kinder. Nur das er das Land aufgeben musste, das sein Urgroßvater nach der Mexikanischen Revolution zugeteilt bekommen hatte, schmerzte ihn.

„Als wir dann in Tijuana ankamen, war am Busbahnhof die Hölle los“, erinnert sich Paco „Menschen aus ganz Mexiko rannten durcheinander. Familien campten auf dem Linoleumboden, in einer Ecke brachte eine Frau ein Kind zur Welt“. In den USA war 1994 mit dem Start von NAFTA die illegale Einwanderung ins Zentrum der politischen Debatte geraten. Nicht die hohe Nachfrage nach den Arbeitskräften im eigenen Land wurde diskutiert, man stigmatisierte stattdessen die Immigranten, die aus Mexiko kamen. Der Republikanische Präsidentschaftskandidat, Pat Buchanan, schlug damals vor, die Große Mauer von China neu zu errichten.

Ebenfalls 1994 verankerten dann Pioniere der US-Armee Zehntausende alter Stahlplatten auf der Grenze. Vom Pazifik aus erstreckt sich seitdem der längste Schrotthaufen der Welt mehrere Kilometer durch Tijuana hindurch bis tief ins Landesinnere. An einigen Stellen hat die US-Regierung für Millionen von Dollars einen zweiten und dritten Zaun bauen lassen.

Gleichzeitig wurde die Border Patrol aufgestockt und warb mit dem Slogan „A career with borders but no boundaries“ um neues Personal. Die neueste Überwachungstechnologie kam zum Einsatz. Man wolle, so hieß es, die Südgrenze wieder unter Kontrolle bringen: ,Operation
Gatekeeper’.

Paco wurde damals am Busbahnhof von einem Einheimischen mit Cowboyhut und Lederstiefeln angesprochen. Er brachte ihn zu einem Haus auf einem der unzähligen Hügel Tijuanas. Dort erklärte ein zweiter Stiefelträger ihm und einigen anderen die Bedingungen der Schmuggler: Paco konnte sich von einem so genannten Kojoten durch die Wüste führen lassen, gefälschte Dokumente kaufen oder sich in einem LkW verstecken. Paco entschied sich für Letzteres.

Was er dann erlebte, nennt er „die längste Stunde meines Lebens“. Er quetschte sich in den ausgehöhlten Lautsprecher eines Kleintransporters, der ihn über die Grenze fuhr. Vor Angst schwitzte Paco mehrere Liter, er bekam keine Luft, seine Beine wurden taub. Dafür kassierten die Tijuana-Cowboys 1000 Dollar.

Von Los Angeles fuhr Paco dann im Greyhound Bus weiter bis nach Oregon, wo er Äpfel erntete, Büros putzte, später Weihnachtsbäume fällte. Bei einer Putzbrigade in Portland lernte er Leticia kennen, mit der er heute zwei Töchter hat. Sie zogen nach East Los Angeles, wo sie in einem chinesischen Restaurant Arbeit fanden. „Die Chinesen fragen nicht nach Papieren, die wollen nur, dass man schuftet wie ein Hund“, sagt Paco.

Zwei Tage nach unserem ersten Zusammentreffen sitzt Paco immer noch vor seinem Tunnel. Zwei Männer sind bei ihm, sie haben ein Feuer gemacht, trinken Limonade. In den Dornen der Gebüsche flattert Klopapier, darunter vergammeln Schaumstoffmatratzen, verrosten Konservenbüchsen. Plötzlich klettert Paco den Metallzaun hoch, um die Grenzschützer ein bisschen zu ärgern, sagt er, und wahrscheinlich auch, um ein wenig anzugeben. Man kommt die Platten leicht hoch, sie haben kleine Wellen, auf denen man stehen kann.

Paco deutet zu einem Hügel. Obenauf steht ein weißer Jeep der Border Patrol. Mit seinen verdunkelten Scheiben wirkt er wie eine Spinne, die darauf wartet, dass ihr ein Insekt ins Netz geht. Am Horizont glitzert die Skyline von San Diego, sechstgrößte Stadt der USA, Rentnerparadies
und Heimathafen der amerikanischen Pazifikflotte.

Auf einmal kommt von links ein Geländerbuggy angeflitzt. Ein Agent der Border Patrol kniet darauf. Er trägt einen schwarzen Helm, eine schwarze Brille und schwarze Handschuhe. Am Gürtel baumelt ein Colt. „Der sucht nach Fußspuren“, sagt Paco. Viele wird er nicht finden.

Tatsächlich bezahlen die meisten Mexikaner und Zentralamerikaner, die über die Grenze wollen, mittlerweile einen „Kojoten“ oder versuchen auf eigene Faust durch die Wüsten und Berge jenseits der Ballungsgebiete zu laufen. Mehr als 2000 Menschen sind dort seit 1994 verdurstet oder erfroren. Andere wurden ausgeraubt, vergewaltigt oder von Bürgerwehren gejagt. Die Strapazen will Paco sich ersparen. Er hat wenig Geld bei sich, die Beerdigung seiner Mutter, wegen der er in Guanajuato war, hat ihn die Hälfte seiner Ersparnisse gekostet.

Nun ist er zermürbt von der Ungewissheit, wann und ob er es schaffen wird. Seit zwei Wochen hat er nicht mit Leticia gesprochen. Er zieht ein Foto aus der Hosentasche. Darauf ist eine schwarzhaarige, stark geschminkte Frau zu sehen. Auf dem Arm hält sie ein zerknautschtes Baby mit tiefschwarzen Augen: Cruz, Pacos erste Tochter. Sie wurde in den Staaten geboren, ist deshalb US-Amerikanerin. „Die wird man nicht an der Grenze aufhalten wie ihren Vater.“ Paco lacht.

Eine Woche später ist Paco von seinem Zeltplatz verschwunden. Dafür haben sieben andere Männer ihre Planen aufgespannt. Als sie die Kamera sehen, wollen sie sich vor der Grenze fotografieren lassen – „zur Erinnerung“, scherzen sie. Einer ruft, „an dem Tag, an dem sie die Grenze wirklich dicht machen und alle Mexikaner nach Hause schicken, bricht Amerika zusammen.“ Alle lachen. Und einer merkt an: „Und Mexiko wird explodieren.“