Baja California: Wo die Steine sprechen

Später legt José Angel Gerardo das Kinn in die Hände und seufzt.

Fast entschuldigend sagt er, dass der Weg nach San Borja schon mal bessere Tage gesehen habe, eine Motorrad-Rally habe ihn aber vor Jahren verwüstet. Da könnten er und sein Sohn mit ihrer Spitzhacke doch nur wenig ausrichten. Der kleine Mann mit Vollbart sitzt in seinem Lehmhaus ohne Fenster und schaufelt Bohnenbrei in sich hinein. Draußen hört man das Knattern eines Mofas lauter werden. Dann steht Josés Sohn steht in der Tür und setzt sich wortlos. Die Mutter tritt aus der dunklen Kochnische, stellt einen Teller mit Tortillas auf den Tisch und streicht ihm übers staubige Haar.

Sie fragt nach den Ereignissen in der „chaotischen Welt dort“ draußen. Die Erzählungen von Terror und Krieg müssen sich hier anhören wie von einem anderen Planeten. Seit José die Solarzellen von der Regierung „irgendwie falsch angeschlossen“ hat, tut das Radio der Gerardos nicht mehr. Und die einzigen unmittelbaren Nachbarn der sechsköpfigen Familie, ein altes Ehepaar, kommt schon lange nicht mehr aus seiner Hütte.

Die Welt dreht sich, aber es scheint, als ob San Borja sich nicht mitdrehe. Inmitten einer zartgrün schimmernden Oase gelegen, ist die Mission wie aus der Welt gefallen. Nur 40 Kilometer entfernt drängeln sich die amerikanischen Wohnmobile über die 1.700 Kilometer lange Bundesstraße Mex 1: unterwegs zum Whale Watching in Guerrero Negro, zu den Yachthäfen von La Paz oder den Partyhotels am südlichen Zipfel der Halbinsel. Über die Mex 1 fließen die Touristen-Dollars, die die einst bitterarmen Bundesstaaten Baja California und Baja California Sur mit zu den wohlhabendsten in Mexiko gemacht haben. Damit das so bleibt investiert die Regierung kräftig in den Ausbau von Hafenanlagen und Golfplätzen, vor allem im Süden der Halbinsel.

Am Hinterland abseits der Mex 1 aber geht die Entwicklung fast spurlos vorbei. Schon der Weg nach San Borja gleicht einer Nervenprobe, da hat José mit „verwüstet“ die passende Beschreibung gefunden. Der Wagen stürzt in Krater, Dornensträucher kratzen am Lack, faustgroße Steine donnern gegen den Wagenboden. Aus 40 Kilometern werden schnell zwei Stunden. Buddelnd flucht man über den fehlenden Vierradantrieb. Streit verursacht der zu lange Blick auf die leuchtenden Tafelberge, die hier majestätischer sind als in jeder Marlboro-Werbung. Die Sonne schießt auf den Horizont zu. Besser man ist irgendwo.

Erst später kommt der Gedanke, dass der strapaziöse und gefährliche Weg Bestandteil der Reise ist; dass man sich aus der bekannten Welt der Sicherheiten erst mühsam herauskämpfen muss, um in die Märchenwelt der ehemaligen Mission einzutreten. In der Kochnische kommt im dunklen Licht der Öllampe eine weitere Gestalt zum Vorschein: Ein etwa sechzehnjähriges üppiges Mädchen. Sie blickt sich immer wieder neugierig um. Dulce wird sich als diskrete und charmante Führerin durch die Geheimnisse San Borjas erweisen. Sie ist wie ihre Mutter eine der wenigen Nachkommen der Cochimí, die rund um die Oase siedelten, bevor die Spanier im 18. Jahrhundert in Baja California Fuß fassten.

Wenig ist bekannt über die Indianer. Nur dass Jesuiten und Dominikaner mit ihrer Arbeitskraft die Mission aufbauten, die vom vierzig Kilometer entfernten Hafen Bahía de Los Angeles versorgt wurde. Wie Dulces Vorfahren die Missionare 1762 empfingen? Ob sie sich gegen das Christentum wehrten? Darüber könnten vielleicht die Mauern der jesuitischen Lehmgebäude, den ältesten der Halbinsel, Auskunft geben. Doch sie wollen nicht mehr sprechen, Wind und Wasser haben sie auf die Grundmauern geschrumpft. Neben den jesuitischen Lehmklumpen erhebt sich dafür umso stolzer eine Kirche aus Vulkanstein. Nachdem die Jesuiten 1767 aus dem spanischen Imperium verbannt worden waren, übernahm der Dominikanerorden die Missionen und demonstrierte baulich seine neuerworbene Macht.

Das langgestreckte Gotteshaus steht still und stumm inmitten der Wildnis, ein trotzig in den Himmel ragendes, weißes Kreuz macht klar, welcher Gott hier das Sagen hat. Das Innere der Kirche scheint seit Jahrhunderten unverändert. Es fröstelt einen unter den hohen, gewölbten Lehmdecken, die auf kühlen Steinwänden ruhen. Sie bezeugen die architektonische Sorgfalt der Mönche – und das Geschick ihrer indianischen Bauarbeiter. Wie viele Cochimí bei den Arbeiten umkamen? Keine Antwort. Über die Wendeltreppe dringt der Klang der windgeschüttelten Glocke vom Turm ins Innere des Baus während draußen ein Esel IiiiAaaa schreit, als ob es ihm an die Gurgel ginge.

San Borja florierte bis die Cochimí von den Krankheiten hinweggerafft wurden, die ironischerweise die Geistlichen, eingeschleppt hatten. Als um 1820 von den rund 50.000 Indianern in Baja California nur noch rund 3.000 am Leben waren, war auch die Existenzberechtigung der Missionare verschwunden. Mit den Indianern gingen die fast 30 Missionen zu Grunde, deren mehr oder weniger gut erhaltenen Ruinen heute über ganz Baja California verstreut liegen.

Im Mondlicht führt Dulce ihre Besucher durch Zitronengärten, Bohnenfelder und Olivenhaine. Sie bleibt an der Quelle stehen, der die Oase ihr Dasein verdankt. Fette Tauben fliegen auf, als sie ihr hüftlanges Haar zurückwirft und zum ersten mal spricht: „Wer darin badet, steigt verjüngt wieder raus“. Das Wasser ist warm und leicht schwefelhaltig. „Manche Besucher wollen gar nicht mehr rauskommen“, sagt sie. Auch die Marihuana-Soldaten verbrächten ihre Tage lieber unter den Palmen anstatt zu patrouillieren.

José, der von der Regierung bezahlt wird, um auf San Borja aufzupassen, erzählt, dass manchmal Soldaten aufkreuzten, die die zerklüfteten Berge nach Marihuanafeldern durchstreiften. Ansonsten herrsche Ruhe in San Borja. Selbst die Lehrer, die die Regierung geschickt habe, um seine Kinder zu unterrichten, hätten es wegen der Einsamkeit nie länger als zwei Wochen ausgehalten. Darüber ist José gar nicht unglücklich. Seit er einer evangelistischen Sekte aus den USA beigetreten ist, glaubt er ohnehin, dass Lehrer „chaotische moderne Ideen“ verbreiteten. Jetzt unterrichtet Dulce ihre kleine Schwester und zwei Brüder. Hauptlektüre ist die Bibel.

Tatsächlich herrscht in San Borja ein christlicher Tagesrhythmus. Die Sonne ist kaum aufgegangen, da steht José vor dem Zelt. „Ich muss euch was Interessantes zeigen“, sagt er, die Spannung, die seine Worte auslösen, wohl kalkulierend. „Steigt ein!“ Er deutet auf einen orangefarbenen Toyota Pick-Up ohne Kotflügel. Zwanzig Minuten kurvt er scheinbar orientierungslos durch einen Wald aus Trompetenbäumen. Dann stoppt er abrupt vor einer Felswand: „Klettert mal rauf!“ Gesagt, getan. Schwarze Menschenfiguren mit Hörnern jagen rote Hasen, eine schwarze Sonne scheint, Regentropfen fallen, die als kurze Striche dargestellt sind. Es sind kleine abstrakte Kunstwerke und zugleich Dokumente prekärer Lebensumstände, die hier auf die Felsen gemalt sind.

Wo in anderen Ländern zumindest Schilder und Absperrungen stünden, gibt es keine Hinweise darauf, dass fünftausend Jahre alte Felsmalereien die Steine bedecken. Sie ähneln anderen Felsmalereien, die in ganz Baja California zu finden sind und die die Halbinsel zu einem Abenteuerspielplatz für Steinzeit-Fans gemacht haben. „Sie sind trotzdem was Besonderes“, gibt José an. „Manchmal kommen Wissenschaftler und machen Fotos. Aber sonst kennt niemand die Malereien. Sonst kritzeln noch irgendwelche Doofköppe was dazu.“ Man kommt sich wie ein Entdecker vor – wie ein Eindringling in ein rätselhaftes Universum, dessen Zeichen sich einem verschließen. Wie die Mission sprechen auch die Malereien davon, dass in der karstigen Gegend zwischen Mex 1 und der Sea of Cortes einmal Menschen nicht nur mit dem Überleben beschäftigt waren.

Die Gerardos frühstücken auf einer Terrasse unter Palmenblättern: Bohnen, Kartoffeln und der überall in Mexiko übliche Nescafé. Zum Abschied bekommt José zwanzig Dollar in die Hand gedrückt und eine Stapel mit Kleidung. Die Hosen und Hemden sind zwar allesamt zu groß für die Gerardos, aber „meine Frau kann alles umnähen. Kugelschreiber habt ihr nicht zufällig?“ Dulce läuft, bis sie nicht mehr kann, neben unserem Wagen her. Wer weiß, wann der nächste Besuch kommt, den sie dann still durch die Oase geleitet. San Borja verschwindet hinter einer Wand aus Kakteen, deren Schatten im Morgenlicht aussehen wie vielarmige Giganten auf dem Wüstenboden. Und so, als ob Oase, Mission und die Gerardos nie da gewesen wären, ist plötzlich alles wieder Schlachtfeld. Bis die Mex 1 unter den Reifen gleichmäßig und beruhigend surrt.