Ein Leben lang hat er den Tarzan gegeben, jetzt kommt er nicht mehr raus aus der Rolle. Sie ist ihm in die Muskelpakete eingeschrieben.
Kapax, 60 Jahre alt, 100 Mal mehr Dschungelkönig als Johnny Weissmüller, Legende in Kolumbien, Distanzschwimmer, Sohn einer Indianerin und eines deutschen Kapitäns, Analphabet und Bezwinger der Anakonda, legt das Paddel auf den Kanuboden und formt die Hände vor dem Mund zum Trichter: “Huuuh-Huh-Huuuh.” Der dunkle Fluss gluckst, eine Liane baumelt aus dem Baumkronendach, ein Vogel schreit. Schon springt Kapax aus dem Boot, klettert eine im Wasser stehende Würgefeige empor, kniet auf einem Ast und schaut und horcht und riecht in den überfluteten Wald hinein. So verharrt er, halbnackt, zum Sprung bereit, und wird eins mit dem Blattwerk.
Als er wieder im Kanu sitzt, sagt Kapax: “Ich werde den Amazonas entlangschwimmen. Ich werde den Kindern sagen, dass wir ihn retten müssen. Ich werde es so machen wie damals.”
Nicht mal einen halben Tag ist es her, da hat Kapax noch in Turnschuhen und T-Shirt am kleinen Flughafen von Leticia inmitten des Gewühls aus Menschen und Taschen gestanden und auf die tägliche Maschine aus Bogotá gewartet. Kinder haben die Gestalt mit den langen grauen Haaren angestarrt und auf den zweifingerbreiten Zahn des Jaguars gedeutet, den Kapax vor der Brust trägt. Mütter haben ihn um Autogramme gebeten. Männer schüttelten ihm ehrfurchtsvoll die Hände. Mit denen hat er eine Riesenanakonda gebändigt, hat sie sich um den Hals gelegt und zu seiner Geliebten erklärt. “Du bist Cantalicia”, hat er zu dem Fünfmeter-Viech gesagt. Seitdem wohnt die Schlange im Zoo.
“Lass uns hinunter zum Hafen gehen”, drängt Kapax, “wir müssen den Fluss hinauf”.
Kapax lebt seit dreißig Jahren in Leticia, 35000 Einwohner, quirlig-feuchtes Städtchen im kolumbianischen Urwald, weit weg vom Rest der Welt. Leticia befindet sich in der Spitze des Keils, den Kolumbien ganz im Süden zwischen Brasilien und Peru schlägt. Peru liegt auf der anderen Seite des Amazonas. Die Grenze zum brasilianischen Tabatinga besteht aus zwei Fahnenmasten. Ob sie dort stehen oder nicht, ist eigentlich egal: Leticia und Tabatinga bilden praktisch eine Stadt. Auf kolumbianischer Seite feiert man die Siege der brasilianischen Fußballer, in Brasilien freut man sich über den niedrigen Benzinpreis in Leticia. Grenzkontrollen gibt es nicht. Auf dem Landweg – die einzige Ausfallstraße endet nach 25 Kilometern im Wald – kommt man hier ohnehin nicht weg. Nur per Flugzeug. Oder über den Amazonas.
Der Grenze verdankt Leticia seine Existenz als Militärstützpunkt, dem Fluss die als Marktplatz. Bis in die neunziger Jahre hinein war der Ort noch ein Umschlagplatz für Kokain. Im Dschungel lagen die Flugpisten der Mafia, im Ort bauten sie Luxushotels und wuschen ihr Geld. Auf dem staubigen Weg zum Hafen entlang der dampfenden Fischgrills und Karren voller Papayas erzählt Kapax, wie die Drogenhändler auch ihm einmal an den Kragen wollten, weil er ihnen angeblich die Medien auf den Hals gehetzt hatte. “Dabei hatte ich den Fernsehleuten bloß von den Brandrodungen erzählt.” Das TV-Team machte daraus eine Geschichte über die Kokaplantagen, die den Wald verdrängen. Kapax musste sich für eine Weile zurückziehen.
Heute machen im Hafen, der aus einem einzigen Metallponton besteht, keine Schmugglerboote mehr fest. Stattdessen dümpeln hier die Kanus der Ticuna, der Yagua und der Cocoma. Die Indios kommen mit Bananenstauden und Yukawurzeln und kehren mit Gasflaschen und Benzinkanistern heim in ihre Dörfer.
Kapax nimmt im Motortaxi Platz, rückt sein langes Messer am Gürtel zurecht und lehnt die angebotene Schwimmweste ab. So was brauche er nicht. Im gleißenden Sonnenlicht schießt das Boot auf den kaffeebraunen Fluss hinaus. Links, am Horizont, Peru. Rechts, Kolumbien, wo ab und zu ein Kapokbaum mit weißem Stamm und ausladender majestätischer Krone in den Himmel ragt. Man muss sofort an den Film “Aguirre – Der Zorn Gottes” von Werner Herzog denken, in dem Klaus Kinski als spanischer Eroberer auf einem Floß herumberserkert, das den Strom hinuntertreibt.
Einmal sieht er ein Schiff, das in der Krone eines solchen Riesen feststeckt. Eine surreale Szene, aber man kommt hier, wo es keine rechten Winkel gibt und die Farben keine Namen mehr haben, schnell auf solche irren Ideen.
Kapax sagt, dass der Fluss jedes Jahr flacher und breiter werde. “Wegen der Erde, die hineingeschwemmt wird, weil Bäume fehlen, um den Boden zu halten.” Das Boot weicht Stämmen aus, die den Fluss heruntertreiben, und es überholt Kanus, in denen Fischer mit ihren Kindern unter Sonnenschirmen hocken. Es holpert über die Bugwelle der Gran Diego, einer rostigen Fähre, die vom peruanischen Iquitos nach Manaus tuckert.
Nach anderthalb Stunden dröhnender Fahrt weist Kapax den Kapitän an, in eine kleine Mündung einzubiegen. Kurz dahinter schiebt sich das Boot aufs schlammige Ufer, wo drei Dutzend schlecht zusammengezimmerte Holzhäuser stehen: La Libertad, eine Siedlung der Yagua-Indianer, die ursprünglich aus Peru stammen und dafür bekannt sind, dass sie mit dem Gift Curare jagten. Während es in Brasilien verboten ist, Indio-Gemeinden ohne Genehmigung zu besuchen, hat der kolumbianische Staat nichts dagegen.
Kinder stehen am Ufer und halten Faultiere im Arm. In La Libertad leben 250 Menschen, 100 davon sind jünger als zwölf Jahre, die Lebenserwartung liegt bei 34 Jahren. Der kleine schnauzbärtige Dorfvorsteher begrüßt Kapax und sagt: “Wir leben hier zwischen Himmel und Hölle, die Frauen haben zu wenig Land zum Anbau, und wir Männer fangen nichts mehr.” Zwei Yagua in Baströcken malen Kapax rote Streifen auf die Wangen. Er ruft die Kinder zu sich auf den betonierten Basketballplatz, den die Regierung gebaut hat und den keiner braucht.
Aus einer Umhängetasche holt er eine Steinschleuder. “Damit dürft ihr nicht mehr auf die Vögel schießen”, ruft er. Dann hält er ihnen eine Plastikflasche hin: “Und so was nicht mehr in den Fluss werfen.” Die Kinder streicheln ihre Faultiere, machen große Augen und nicken. So etwas haben sie noch nicht gehört. Aber sie verstehen die simple Botschaft des barfüßigen halbweißen Mannes.
Kapax hat sie zum ersten Mal vor 30Jahren gepredigt. Damals hieß er noch Alberto Lesmes Rojas und er schwamm den Rio Magdalena bis zur Mündung im Atlantik hinunter. Der Fluss ist der längste Strom Kolumbiens und Schauplatz von Gabriel García Márquez’ Roman “Die Liebe in den Zeiten der Cholera”. Zwei Monate brauchte Alberto für die 1300 Kilometer.
Er kraulte morgens vier Stunden, machte dann in den Uferdörfern Station, um zu essen und zu schlafen. Dann schwamm er weiter. Einmal sagte jemand zu ihm: Alberto, du schwimmst wie ein Capaz, der bärtige Amazonasfisch. Da nannte Alberto sich Kapax und wurde Held einer Comicserie. Anfang der achtziger Jahre machte man einen B-Movie mit ihm: “Kapax, Held der Wildnis”. Er rettet darin eine Frau, deren Flugzeug im Dschungel abstürzt. Doch anstatt im Unterhaltungsgeschäft Karriere zu machen, zog sich Kapax nach Leticia zurück und widmete sich dem Schutz des Amazonas.
Kapax kann seinen Namen nicht schreiben, er nuschelt und verwechselt die Artikel, wenn er Spanisch spricht. Aber er verkörpert ein anderes Kolumbien, eins, das nichts mit dem bösen Land zu tun hat, das die Vorstellungswelt vieler Menschen beherrscht: Koks, Guerilla, Paramilitärs, 50 Jahre Bürgerkrieg – andere Geschichten will die Welt nicht hören.
Dabei hat die neue Regierung dem Land eine starke Medizin verordnet: Mit massiver US-Militärhilfe wurden die linke Guerilla zurückgedrängt, die Kokainkartelle in den Städten beseitigt und umstrittene Verhandlungen mit den rechtsradikalen Paras begonnen. Deutlichstes Zeichen für den Wandel: Die Kolumbianer trauen sich wieder auf die Straßen im eigenen Land. Noch vor wenigen Jahren war das wegen der Entführungsgefahr undenkbar.
“Respektiert den Fluss. Sonst wird er euch keine Fische mehr schenken”, das ist Kapax’ größte Sorge. Wegen seines Engagements kam sogar Alvaro Uribe, der Präsident Kolumbiens, zu ihm. Kapax begrüßte ihn mit Cantalicia, die sich um seinen Hals schlängelte: “Das gefährlichste Tier ist der Mensch”, sagte er. Der Präsident lächelte, ernannte Kapax zum Botschafter des Amazonas und ließ nie wieder etwas von sich hören.
Den Botschafterjob nimmt Kapax trotzdem ernst: “Der Tourismus kann den Amazonas retten”, glaubt er. “Und ich zeige den Touristen meine Welt.” Tatsächlich birgt der kolumbianische Dschungel eine Artenvielfalt, die nur noch von Brasilien übertroffen wird. Auch daher ist rund um Leticia in den vergangenen Jahren eine Infrastruktur entstanden, die auf sanften Tourismus setzt: Es gibt ein kleines auf Holzstelzen gebautes Resort im Park Amacayacu, einem 300000 Hektar großen Naturschutzgebiet, wo Iguanas über die Terrassen laufen und rotblaugrüne Papageien die Flussläufe bevölkern, die man tagelang im Kanu erkunden kann.
Im Dorf Puerto Nariño, einem bunten und preußisch aufgeräumten 3000-Einwohner-Ort zweieinhalb Stunden von Leticia, leben Menschen vom Stamm der Tikuna. Es gibt nur Fußwege in Puerto Nariño, keine Straßen und deshalb auch keine Autos. Gerade erst wurde Puerto Nariño für seine vorbildliche Mülltrennung ausgezeichnet. Strom gibt’s nur zwischen 17 und 23 Uhr. Einen schöneren Sternenhimmel als über Puerto Nariño hat man wahrscheinlich selten gesehen. Nachts, bei Kerzenschein, Fisch und Yucca erzählt Kapax von einem giftigen Insekt, das einen stechen können und das Einzige, was helfe, sei: “Binnen zwei Stunden: Sex.” Man glaubt ihm die Geschichte sofort. Hier scheint alles möglich zu sein. Kapax lacht sich kaputt. Am Morgen drängt er zur Eile. “Wir müssen zu meinen rosafarbenen Freunden.”
Woanders ist der Amazonasdelfin so gut wie ausgerottet, in Kolumbien hat sich die Population wieder erholt, weil er von den Tikuna aus Nariño geschützt wird. In einem kleineren Seitenarm des Amazonas planscht Kapax mit den Händen im Wasser. Nach einer Zeit hört man ein Schnaufen, und dann furchen die Rücken von zwei Delfinen durch die Wasseroberfläche. Ab und zu schnellen sie aus dem Wasser, ihre Schnauzen lang wie bei kleinen Krokodilen, ihre Bäuche zartrosa, ein surrealer Kontrast zum dunklen Wasser.
Die Delfine sind fast blind. Sie haben kleine Schweinsäuglein und orientieren sich wie Fledermäuse über das Echo von Schallwellen, die sie ausstoßen. Für die Indios sind sie mythische Wesen, die sich nachts in Menschen verwandeln können. Als die Delfine das Interesse verlieren, steuert Kapax das Kanu in den überfluteten Wald hinein. Er klettert auf die Würgefeige. Er will später nicht sagen, was er da oben gesehen hat.
Aber er hat einen Entschluss gefasst. Er will noch einmal schwimmen. Diesmal den kolumbianischen Amazonas hinunter.