Mein Buch: “Das verlorene Paradies”

Mein Buch: “Das verlorene Paradies”

Mein Buch mit 21 Reportagen aus Haiti und der Dominikanischen Republik ist im Herbst 2013 bei Dumont erschienen.

Hier die Einleitung:

Wo zum Teufel soll ich jetzt zweihundert Dollar auftreiben? Der Schamane fuchtelt mit seinem knochigen Zeigefinger vor meiner Nase herum und wiederholt: »Eine Ziege, acht Hühner und fünfzehn Liter Schnaps. Außerdem: Reis, Bohnen, Knoblauch, Zwiebeln, Salz und Maggi für 120 Leute. Macht zweihundert Dollar.«

Ich schaue meinen Begleiter an. Tabaco hat mich in den Schlamassel hineingezogen, jetzt soll er mich auch wieder herausholen. Aber Tabaco zieht nur an seiner verdammten Pfeife. Gut, ich wollte eine Vodou-Zeremonie in Haiti besuchen. Tabaco hatte die Kontakte geknüpft und versprochen, dass die Sache glattgeht. »Das wird ganz wunderbar«, hatte er gesagt: »Es wird getrommelt, gesungen und Schnaps getrunken. Die Frauen tanzen und fallen in Ekstase. Dann schlüpfen die Geister in die Körper einiger Leutchen, es wird ein Huhn geopfert, und im Morgengrauen nimmt dich eine Hübsche mit ins Unterholz. Irgendwann wachst du glücklich wieder auf, und wir fahren zurück.« Ich glaubte Tabaco gerne.


Am frühen Morgen hatten wir die Grenze nach Haiti überquert. Waren über eine löchrige Piste in die sonnenzerstochenen Berge dieses elendigen und wundervollen Landes gefahren. Auf einem Marktplatz trafen wir den Schamanen, einen dürren Mann mit malariagelben Augen und löchrigen Schuhen. Er lotste uns über einen Trampelpfad zu seiner Hütte. Dort standen wir dann vor dem Altar mit den Menschenschädeln, dem Schnaps und der Schwarzen Madonna. Und nichts ging glatt.

Aber hätte ich ahnen können, dass man mich zum Objekt der Vodou-Zeremonie machen wollte? Und dass dies bedeutete, die komplette Chose auch zu bezahlen? Zehn Stunden Party mit allem Pipapo, für die gesamte Gemeinde!

Der Priester blickt mir tief in die Augen, ergreift meine Hände, seine Finger sind kräftig und warm. »Überlege es dir, Weißer«, flüstert er. »Vielleicht hast du den Beistand der Geister nötiger, als du denkst.« Ich will nicht ausschließen, dass er recht haben könnte. Ich ahne auch, dass der Priester und seine Familie nur unregelmäßig essen und deshalb auf die Zeremonie angewiesen sind. Aber ich habe nun mal keine zweihundert Dollar dabei.

Zwölf Tage zuvor wäre mir die Situation völlig absurd vorgekommen. Da waren der Vodou-Priester und mein Pfeife rauchender Kompagnon Tabaco noch weit weg. Ich saß im Flugzeug irgendwo über dem Atlantik und fürchtete mich. Vor Haiti, einem Land, das man einmal “Perle der Antillen” nannte – das aber heute als Chosrepublik gilt. Und vor der Dominikanischen Republik, über die ich irgendwo gelesen hatte, »wie Mallorca, nur in der Karibik«. Freunde und Journalistenkollegen hatten bestürzt reagiert: »In die Domrep? Da gibt’s doch nur Massentourismus. All-inclusive-Hotels und so. Palmen, Kokosnüsse, Ballermänner. Was willst du da?«

Der Airbus 330 war am Morgen in Düsseldorf gestartet und ist bis auf den letzten Platz besetzt. Fast nur Pauschalurlauber quetschen sich in die engen Reihen. Sie wollen für ein bis zwei Wochen in eins der Ferienresorts rund um Puerto Plata an der dominikanischen Nordküste. Man trägt Goldkettchen oder Arschgeweih, liest Bild oder blättert im Focus, trinkt Dosenbier und kauft steuerfrei Parfüm. Eine Dominikanerin kommandiert ihr Kind mit schmirgelnder Stimme zum Sitzplatz, zwei stille Russen beäugen sie neugierig. Ja, es sind Stereotypen. Aber was soll man machen?

Als der Kapitän von Air Berlin nach neun Stunden endlich den Sinkflug auf Puerto Plata ankündigt, erwacht mein Sitznachbar aus dem Tiefschlaf, reißt sich das T-Shirt vom Leib, streift ein Fußballtrikot über und singt: »Schaaalkeee!« Ja, erklärt der Mann, die Königsblauen spielten gleich. Zuhause in Gelsenkirchen, Championleague. Ob sich der »Capt’n« nicht beeilen könne, dann komme er noch rechtzeitig ins Central nach Sosúa. Er sei übrigens der Andi. Einige Umsitzende lachen, die Stewardessen schauen streng.

Andi beugt sich zu mir herüber und raunt: »Frauen, Sonne, Rum oder was?!« Seine königsblauen Augen funkeln lustig, als er mir auf seinem Handy die Fotos einiger dunkelhäutiger Schönheiten zeigt. »Vom letzten Mal«, sagt er. Ist Andi Sextourist? Nein, so könne man das nicht sagen, das beruhe schon auf Gegenseitigkeit. »Jeder gibt dem anderen, was er braucht. Geld gegen Liebe.« So sei das heutzutage.

Der uruguayische Autor Eduardo Galeano hat einmal geschrieben, dass die Geschichte eine Prophetin mit rückwärts gewandtem Blick sei: »Aus dem, was war, und gegen das, was war, kündet sie das Kommende.« Der Satz steht in dem Buch »Die offenen Adern Lateinamerikas«, und in diesem Moment glaube ich zu begreifen, was Galeano meinte. Die Insel, auf die wir seit neun Stunden zufliegen, ist solch eine klaffende Ader. Vor fünf Jahrhunderten begann hier die schwierige Beziehungskiste zwischen Europa und der Karibik. Und hier wird sie gerade fortgesetzt.

Für die Pauschalreisenden im Flieger ist die Dominikanische Republik ein Urlaubsparadies ohne Geschichte. Natur ohne Kultur, sechstausendfünfhundert Kilometer weit weg, gemacht, um das Erholungsbedürfnis des gestressten Westlers zu befriedigen. Der lässt traditionell die Sau raus, wenn er karibischen Boden betritt. Das begann schon mit Kolumbus: her mit Frauen, Gold und Land. Die einen sagen, dass die Spanier ja wegen nichts anderem herübergesegelt wären. Dass sie wie Bluthunde ihre Zähne in die Gurgel des Kontinents geschlagen hätten, und dass das der Beginn des globalen Kapitalismus’ gewesen sei.

Vielleicht aber kamen diese Männer der Renaissance nach zwei Monaten auf dem Ozean auch nicht mit der Üppigkeit der Karibik klar. Es wollte nicht in ihre iberischen Schädel, wie Gott hier in einer verschwenderischen Laune so viel Schönes auf einmal zusammengeführt hatte. Die wild wuchernden Pflanzen, die irren Farben, die seltsamen Tiere, die frei- und großzügigen Menschen. Andi aus Gelsenkirchen geht es ja heute noch ganz ähnlich.

Christoph Kolumbus betrat im Dezember 1492 an der Nordküste des heutigen Haiti Land. Ich stelle mir vor, wie er da schwitzend mit Helm, Kreuz und Schwert steht und von den nackten Taíno-Indianern mit Papageien empfangen wird. Und wie er notierte, dass man die Taínos mit nur fünfzig Mann zwingen könne, alles zu tun, was man wolle. Über die Insel vermerkte er, »das Schönste, was je ein Mensch erblickt hat«. Er gab ihr den Namen La Isla Española. Dann lief die Santa Maria an Weihnachten 1492 auf ein Riff, und die Spanier bauten aus den Überresten das Fort La Navidad. Neununddreißig Männer blieben zurück.

Doch als Kolumbus ein Jahr später mit siebzehn Schiffen, tausend Mann und großen Erwartungen zurückkehrte, waren die ersten Siedler tot, umgebracht von den Taínos. Ein Begleiter Kolumbus’ mutmaßte über die Gründe: »Jeder hatte fünf Frauen, die sich um seine Bedürfnisse kümmern sollten.« Das stank den Taínos natürlich gewaltig, zumal die Spanier auch sonst stahlen, was sie brauchten. So begann das damals.

Und fünfhundertzwanzig Jahre später ist jetzt unsere Maschine mit vierhundert gut gelaunten Urlaubern im Anflug. Die Taínos sind ausgerottet. Den Spaniern gehören fast alle Hotels der Insel. Ein kanadischer Bergbaukonzern sprengt eine riesige Goldmine in die Berge, verseucht Flüsse und Böden. In Haiti essen sie, um satt zu werden, Plätzchen aus Lehm und werden von Hilfsorganisationen bemuttert. Und der Andi glaubt noch genau wie Kolumbus, dass die Frauen der Insel »fügsam und unterwürfig« seien.

Vor dem Flugzeugfenster taucht eine Chlorophyllexplosion im himmelblauen Atlantik auf. Quisqueya nannten die Taínos ihre Insel: Wunderbares Land. Oder auch Ayiti: Bergiges Land. Eine Stadt erstreckt sich an der Küste zwischen einer Bucht und einem einsamen Berg, dessen Gipfel von silbrigem Nebel umhüllt ist. Letzterem soll der Ort seinen Namen verdanken. Kolumbus taufte ihn Puerto Plata: Silberhafen. So die Legende.

Die Maschine legt sich in eine Kurve, unter uns das Meer. In eintausend Metern Tiefe liegt dort das Wrack einer Boeing 757. Sie war 1996 kurz nach dem Start in Puerto Plata abgestürzt. Fast genau fünfhundertvier Jahre nach dem Untergang der Santa Maria weiter westlich. Alle 199 Menschen an Bord starben, hauptsächlich deutsche Urlauber. Es war die größte Katastrophe der deutschen Charterfluggeschichte und bedeutete das Ende der Airline Birgenair.

Später, am Gepäckband, treffe ich Andi wieder. Wir treten ins Licht vor dem Flughafen und werden von einer Menschenmenge verschluckt: Geldwechsler, Taxifahrer, Reiseführer. Ich sehe noch, wie Andi von einer Schwarzen mit künstlichem Haar und Raubtierfingernägeln umarmt wird. Sie ist in ihren Stöckelschuhen einen Kopf größer als er, Andi verschwindet zwischen ihren Brüsten.

Ich winke einen Motorradtaxifahrer heran. Noch bevor ich etwas sage, wuchtet er meinen Rucksack auf den Tank seiner Suzuki. »Kennst du das Museum Mundo King in Sosúa?«, frage ich. Der füllige Fahrer lacht rau im Schatten seiner Baseballkappe. »Du willst zum Irren? Kein Problem. Yo soy Manuel.« Ich steige auf. Er gibt Gas. An dieser Stelle hätte ich wahrscheinlich misstrauisch werden müssen. Denn ich wollte zu keinem Irren. Aber wie hatte es der chinesische Philosoph Laozi ausgedrückt: »Wer zu reisen versteht, hat keinen Plan und weiß nicht, wohin es ihn treibt.« Daran wollte ich mich während der kommenden Monate halten.

Einige Geschichten habe ich von der Reise über diese Insel mitgebracht. Sie handeln von glücklichen Aussteigern und traurigen Prostituierten, von alten Hexenjägern und modernen Sklaven. Von einem Mann, der aus Menschenschädeln Weltkunst montiert. Und von einer Frau, die ihr Leben lang nur erzählt. Es geht um das Gefühl, wie das ist, wenn einer dir eine Pistole unter die Nase hält. Und darum, wie ein Mensch in einer Stadt überlebt, in der nicht einmal mehr die Hoffnung existiert. Es geht hinab in einen Berg, in dem ein himmelblauer Stein verborgen liegt. Und hinauf zum achten Weltwunder. Majestätisch, blutgetränkt, so gut wie unbekannt. Wo anders könnte es stehen als auf dieser Insel?

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