Brasilien: Statussymbol Bier

Brasilien: Statussymbol Bier

Die Brasilianer sind ein mysteriöses Volk.

Wegen 20 Cent Fahrpreiserhöhung gehen sie auf die Straße und auf dem Weg dorthin fällt ihnen dann auf, was noch so alles falsch läuft in ihrem angeblichen Samba-, Sonnen- und Fußball-Paradies: der skandalös schlechte öffentliche Nahverkehr, die Klassensysteme in Schule und im Krankenhaus, die ständige Unsicherheit, die brutale Militärpolizei und natürlich die korrupten und kleptomanischen Politiker, die gerne Sprüche klopfen wie: „Bettler sollten zu Fischfutter verarbeitet werden!“

Über den größten Skandal jedoch regte und regt sich niemand auf. Kein Transparent, kein Schild, kein Graffiti habe ich bis heute zu dem Thema gesehen. Dabei gab es Sprüche und Schilder zu fast allem, sogar ein besseres Fernsehprogramm wurde gefordert. Aber vielleicht haben die Brasilianer auch resigniert: Wenn schon die kleinen Dinge nicht klappen, wie soll es dann bei den großen besser werden? Worum es geht? Natürlich ums Bier! A cerveja, das die Menschen sich hier ohne aufzumucken vorsetzen lassen. In anderen Ländern würden Aufstände ausbrechen, wenn man der Bevölkerung eine ähnlich dünne, zusammengepanschte Unverschämtheit anbieten würde. Hier nicht, hier trinkt man und vergisst. Keine Durstrevolte in Sicht.

Aufregen tun sich die Brasilianer allerdings, wenn man sie auf die Otterpisse aufmerksam macht, die sie da zu sich nehmen. Denn das geht absolut nicht, dass ein Ausländer kommt und ein kritisches Wort über ihr Land verliert. Da wirkt sofort der Kolonialkomplex, der sich in chronischer Beratungsresistenz äußert. Die Brasilianer wissen, dass vieles bei ihnen mies läuft. Aber sich kritisieren lassen oder gar Hilfe von Außen akzeptieren? Niemals! Da wird dann demonstrativ die nächste Flasche sogenannten Bieres aufgemacht und in den Styroporkühler gestellt, der hier übrigens camisinha heißt – es bedeutet auch Kondom!

Die Fakten: Laut Brasilianischem Verband der Bierindustrie (CervBrasil) trinkt der Brasilianer durchschnittlich 65 Liter Bier pro Jahr und liegt damit weltweit auf dem 24. Platz. Die Deutschen und Österreicher sind mit rund 105 Litern Spitze. Dennoch ist Brasilien nach den USA und China heute der drittgrößte Bierproduzent der Welt: 13 Milliarden Liter werden hier hergestellt, der Überschuss wird in die Mercorsur-Nachbarn verklappt.

In Rio de Janeiro gibt es rund ein halbes Dutzend Massenbiere, von denen man vor allem eins kriegt: schlechte Laune. Es beginnt mit Itaipava, die allerunterste Schublade. Die 350 ml-Liter Dose ist im Supermarkt für umgerechnet 60 Cent zu haben. Deswegen wird Itaipava von den ärmeren Schichten bevorzugt und gilt als „Favelabier“. Kaum ansprechender sind: Antarctica, Brahma und Skol. Einen leicht besseren Ruf genießt Bohemia. Wäre Bohemia ein Blinder, hätte es zumindest einen Blindenstock. Die vier letztgenannten Biere werden von dem brasilianischen Brauereikonzern Ambev verantwortet, der 2004 mit der belgischen Interbrew und 2008 mit den US-amerikanischen Panschern von Annheuser-Busch zum größten Brauereikonzern der Welt fusionierte (deutsche Marken: Beck’s, Hasseröder, Franziskaner, Diebels u.a.).

Ambev stellt seine brasilianischen Biere aus folgenden Zutaten her, hier am Beispiel von Skol: „Wasser, Malz, nicht gemälztes Getreide, Kohlenhydrate, Hopfen, Antioxidationsmittel INS 316, Stabilisator INS 405, Säuerungsmittel 270.“ So wie sich das liest, schmeckt es auch. Mit „nicht gemälztem Getreide“ ist übrigens billiger, oft genetisch manipulierter Mais gemeint, aber keinesfalls die ins Bier gehörende Gerste (portugiesisch: cevada).

Das brasilianische Gesetz erlaubt bis zu 45 Prozent Mais im Bier. Ambev kämpft nun dafür, den Anteil auf 50 Prozent zu erhöhen, um noch mehr Gewinn zu erzielen. Denn die brasilianische Gerstenproduktion ist bescheiden und das Wissen, wie man das Getreide mälzt, gering. Ambev müsste also investieren. Stattdessen lieber: Mais. Schon jetzt macht der Konzern beim Verkauf von Bier für den Preis von 100 Reais einen Reingewinn von 50 Reais. Den Ambev-Bossen ist das offenbar noch zu wenig. Der Ambev Mehrheitseigner heißt Jorge Paulo Leman, er ist einer der reichsten Männer Brasiliens mit einem Vermögen von 12,5 Milliarden Euro. So viel zur brasilianischen Klassengesellschaft und zur Verarschung der Verbraucher.

Die normalen Brasilianer trinken ihr Bier am liebsten in einem boteco: gesellige, zur Straße hin offene Kneipen mit Neonlicht, laufenden Fernsehern und frittierten Häppchen. Die häufigste Darreichungsform ist die in Deutschland unbekannte 0,66 Liter-Flasche, die sechs bis acht Reais kostet (rund zwei Euro dreißig). Dazu werden kleine Gläser oder Plastikbecher ausgegeben. Das Bier ist meistens eiskalt, anders als mit betäubten Geschmacksnoppen ja auch nicht zu ertragen. Als Deutscher muss man sich in botecos oft die Frage gefallen lassen, warum wir eigentlich warmes Bier möge (ich habe keine Ahnung, woher das Gerücht stammt). Man sollte zurück fragen, warum auf den brasilianischen Bieretiketten eigentlich immer steht: „Tipo Pilsen“? Was soll das heißen „Typ Pils“? Entweder Pils oder nicht nicht Pils!

Beliebt ist übrigens auch der chope: Bier vom Fass in kleinen Gläsern, das aber auch nicht besser schmeckt, da es sich meistens um Brahma handelt (der Begriff chope stammt übrigens vom hessischen Schoppen und dem französischen chopine – alten Bezeichnungen für Messbehältnisse).

Die Brasilienexperten unter den Lesern werden nun einwenden, dass es neben den oben erwähnten Bieren auch noch Alternativen gibt, etwa Original oder Serramalte. Das ist im Prinzip richtig. Beide Marken (ebenfalls aus dem Hause Ambev) schmecken wegen ihres höheren Malzgehalts etwas voller, kosten rund einen Euro mehr und gelten deswegen als „Reichenbiere“. Aber auch sie kommen nicht ohne Mais und diverse INS-Zusätze aus und hinterlassen den charakteristischen Nachgeschmack von Einlegesohlen. Außerdem gibt es sie längst nicht überall. In den Favelas oder Rios Zona Norte kann man lange danach suchen. Man enthält sie den Massen vor.

In die Kategorie „Reichenbier“ fällt auch das Allerweltsbier Heineken, das ebenso wie Stella Artois (nicht gemälztes Getreide!) seit noch nicht langer Zeit auf dem brasilianischen Markt ist und meist nur in von Touristen besuchten Einrichtungen erhältlich ist. Die brasilianischen Biere, die tatsächlich Gerste enthalten, sind übrigens an zwei Händen abzuzählen. Dazu gehört eins mit dem schönen Namen: Eisenbahn Rauchbier.

Damit sind wir bei dem, was man in Brasilien trinken kann: die sogenannten cervejas especiais, die fünf Prozent des Marktes ausmachen. Zu den Spezialbieren wird alles gerechnet, was nach traditionellen Methoden gebraut wird, aus Kleinbrauereien stammt oder importiert wird. Entsprechend sind die Preise. Für eine 0,5-Liter-Flasche HB aus München (jetzt auch nicht unbedingt eine Delikatesse) zahlt man 14 Reais: fünf Euro. Für Bier aus einer brasilianischen Kleinbrauerei, die oft in den von Deutsch- und Schweizstämmigen besiedelten Bergorten liegen, sind es sechs bis sieben Euro. Eine Flasche Erdinger kostet im Restaurant acht bis neun Euro (was natürlich auch mit den astronomischen Importzöllen zusammenhängt).

Die Preise für trinkbares Bier nähern sich in Brasilien also denen von Wein in Europa an. Ein entsprechender Kult wird betrieben. Da gibt es Bierbars mit Dutzenden, zumeist aus Europa importierten Bieren. Der Preis für ein Fläschchen mit belgischen Gerstensaft kann dort schon mal 70 Euro betragen. Gutsituierte Brasilianer lassen sich daher gerne in diesen Bars sehen. Der wohlhabende Brasilianer stellt seinen Reichtum aus. Und Bier ist zum Luxusartikel und Statussymbol geworden.

Nun mag man zur Verteidigung des miesen Biers für die Massen einwenden, dass es in Lateinamerika generell keine Bierbrauer-Tradition gäbe und das Bier hier daher generell Mist sei, man schaue nur ins Nachbarland Argentinien. Doch das stimmt nicht. Die Mexikaner können brauen, viele Zentralamerikaner auch, ebenso die Peruaner (die ja ohnehin Lateinamerikas Spitzenköche sind). Eins der besten Biere des amerikanischen Kontinents stammt übrigens ausgerechnet aus seinem ärmsten Land. Es heißt Prestige und wird in Port-au-Prince gebraut. Vielleicht sollten die Brasilianer ihre Beratungsresistenz einmal ablegen und sich etwas von den Haitianern abschauen. Ihre Soldaten stehen ja schon als UN-Truppen auf der Inselhälfte.