Überquert man Brasilien im Flugzeug von Südosten nach Norden ist man zunächst beeindruckt von den gigantischen Ausmaßen des Landes. Dann ist man geschockt.
Stunden bevor man den ersten großen Wald erblickt, sieht man nur eins: Felder. Zunächst sind es noch mittelgroße Äcker, dazwischen Stauseen, Rinderweiden und Eukalyptusplantagen. Irgendwann fliegt man dann über die Hauptstadt Brasilia in der semiariden Hochebene von Goiás. Kurz darauf erreicht man den Bundesstaat Mato Grosso, und die Wüste beginnt. Sie ist grün. Mato Grosso, rund dreimal so groß wie Deutschland, ist Brasiliens Sojastaat. Auf rund 8,5 Millionen Hektar werden die Bohnen hier angebaut, das entspricht der Fläche Bayerns und Thüringens.
Die Felder wirken selbst aus der Luft gigantisch, werden einzig unterbrochen von schnurgeraden Straßen und vereinzelten Farmen. Darüber ziehen Sprühflugzeuge ihre Bahnen, bringen Pestizide auf die gentechnisch veränderten Pflanzen aus. Ab und zu wächst Mais, der mittlerweile im Wechsel angebaut wird. Soja wie Mais werden vor allem als Tierfutter nach China, Europa und in die USA exportiert. Auch wegen des dortigen Fleischhungers ist Brasilien zum zweitgrößte Sojaproduzent der Welt aufgestiegen – die Anbaufläche hat sich seit 2001 auf 28 Millionen Hektar verdoppelt.
Dort, wo sich heute die Monokultur ausbreitet, stand früher Wald. Was von ihm übrig geblieben ist, beginnt weit im Norden Mato Grossos. Eine wie mit dem Lineal gezogene Kante trennt die Felder vom Amazonas. Es ist die „Agrarfront“, wie sie in Brasilien heißt. Der Begriff ist kein Zufall. Brasiliens Agrarindustrie hat dem Wald und seinen Bewohnern den Krieg erklärt. Aus der Luft sind die Straßen schon gut zu erkennen, die illegal in den Wald getrieben werden.
Davilson Brasileiro, der für die Indio-Schutzbehörde Funai das Leben der indigenen Völker im Amazonas dokumentiert, ist gerade aus Mato Grosso zurückgekehrt. Er sagt: „Erst kommen die illegalen Holzfäller mit brandneuen Sägen, Baggern und Lkw-Flotten. Sie werden von kleinen Privatarmeen beschützt. Haben sie die wertvollen Bäume geschlagen, wird der Rest niedergebrannt und die Fläche an die Großbauern übergeben. Holz- und Agrarmafia arbeiten Hand in Hand, die Funai ist machtlos. Es ist wie Wilder Westen.“ Tatsächlich ist Mato Grosso ein gutes Beispiel für die große Macht von Brasiliens Regionalfürsten. Sie sind oft Großgrundbesitzer und Politiker in einem.
Einer von ihnen ist Blairo Maggi. Er war zwischen 2003 und 2010 Gouverneur Mato Grossos und ist heute einer der größten Sojabauern der Welt. In seiner Amtszeit wurden in seinem Staat Waldflächen von der doppelten Größe Hessens vernichtet. Oftmals illegal. Dennoch sitzt Maggi heute im brasilianischen Senat und ist: Vorsitzender des Umweltausschusses. Dorthin gelangte er mit Hilfe der bancada ruralista, einem Zusammenschluss von 120 bis 200 Parlamentariern, die den Interessen de Agrarindustrie dienen. Sie sind es, die den aktuellen Großangriff auf den Wald anführen.
Zuletzt haben sie PEC 215 eingebracht, ein Verfassungszusatz, der die Verantwortung für Indianerreservate von der Schutzbehörde Funai auf die Legislative übertragen soll. Käme PEC 215 durch, wäre Brasiliens indigene Bevölkerung den politischen Stimmungen im Kongress ausgesetzt. Den Ruralisten gelten ihre Territorien schon lange als entscheidendes Hindernis zur weiteren wirtschaftlichen Ausbeutung des Amazonas. Gegen diesen unverhohlenen Angriff protestieren die Indios nun, auch mit der Besetzung von Land. Darauf antworten die Großgrundbesitzer mit Gewalt. 2012 registrierte der katholische Indigenen-Missionsrat (Cimi) 60 Morde an Indios in Brasilien, neun mehr als 2011. Die meisten geschahen mit 37 in Mato Grosso.
Zwar hat Präsidentin Dilma Rousseff bereits angekündigt, notfalls ihr Veto gegen den „verfassungswidrigen“ PEC 215 einzulegen. Doch Rousseff und ihre Arbeiterpartei PT haben nach zehn Jahren an der Regierung ihre Glaubwürdigkeit in Umweltfragen verspielt. Erst im Oktober 2012 verabschiedete Brasilia ein neues Waldgesetz. Der „Código Florestal“ sieht eine rückwirkende Amnestie für illegale Rodungen sowie die Verkleinerung des Schutzwaldes entlang von Gewässern um bis zu 80 Prozent vor. Begründet wird dies mit der angeblich notwendigen der Ausweitung der Agrarflächen. Dabei hat Brasilien schon heute 275 Millionen Hektar für die Landwirtschaft entwaldet – das sind 32 Prozent seines Territoriums, eine Fläche von der Größe Argentiniens. Auf 20 Prozent wachsen Soja, Zuckerrohr und andere Exportprodukte. Auf 75 Prozent der entwaldeten Fläche grasen Rinder.
Die Umweltexpertin Maureen Santos von der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio hält das neue Waldgesetz deswegen für eine Katastrophe. „Diese Regierung setzt auf Rohstoffexport und Megaprojekte. Jeder Gedanke an Nachhaltigkeit ist ihr fremd.“ Es handle sich bei der PT um eine „Entwicklungslinke“, so Santos. Es werde geklotzt wie beim umstrittenen Bau des drittgrößten Wasserkraftwerks der Welt am Amazonaszufluss Xingu. Rund 700 Quadratkilometer Regenwald werden dort vernichtet.
Zwar hat sich das Tempo der Entwaldung in Brasilien insgesamt verlangsamt, seitdem es 2004 mit 28000 Quadratkilometern einen historischer Höhepunkt erreichte. Doch zuletzt hat es wieder angezogen. Zwischen August 2012 und Juli 2013 wurden laut Nationalem Institut für Luftüberwachung mehr als 2000 Quadratkilometer Amazonaswald abgeholzt – ein Anstieg von 35 Prozent zum Vergleichszeitraum 2011/2012.
Doch hinter der Attacke auf den Amazonaswald stecken nicht nur die Holzmafia und die Agrarindustrie. Anfang des Jahres lagen bei der Regierung 4500 Anträge von Minenkonzernen vor, die in 17 Indianerreservaten nach Gold, Kupfer und anderen Rohstoffen schürfen wollen. Es ist daher kein Zufall, dass in Brasilia zurzeit die Öffnung von Reservaten erörtert wird, wenn dies im „nationalen Interesse“ liege. Hinter dem Gesetzesvorhaben PL 1.610 stecken die etwa 200 Parlamentarier des sogenannten Minenflügels, einer Art Interessenvertretung der brasilianischer Minenindustrie mit dem Giganten Vale S.A. an der Spitze. Einige Anführer des Minenflügels werden wegen ihrer Verbindungen zu Vale von der Justiz untersucht.
Auf eine weitere aktuelle Gefahr für Brasiliens Wald macht die Umweltorganisation WWF aufmerksam. So hat der Senat bereits dem Gesetzentwurf 626/2011 zugestimmt, der den großflächigen Anbau von Zuckerrohr in der erweiterten Amazonasregion, dem Cerrado, gewährt. Er war bisher auf Südbrasilien beschränkt, wo Zuckerrohr zu Biosprit verarbeitet wird. Nun versucht der WWF das Abgeordnetenhaus zur Ablehnung des Entwurfs zu bewegen. Doch WWF-Sprecher Aldem Bourscheit sagt: „Ich bin Realist und daher eher pessimistisch.“