João Ubaldo Ribeiro, der Ausschweifende

João Ubaldo Ribeiro, der Ausschweifende

Brasiliens großer Romancier ist von kleiner rundlicher Gestalt.

Er öffnet die Tür in kurzen gelben Hosen und Flipflops, über seinem Bauch spannt ein weißes T-Shirt mit Löchern unter der Achseln und auf seiner Nase sitzt eine dieser großen rechteckigen Hornbrillen, die in den späten Siebzigern mal Mode waren.

Eine Bassstimme brummt unter einem angegrauten Walrossschnauzer: „Boa tarde, tudo bem? („Guten Tag, alles klar?“) Das sonore Organ wurde von Tausenden Zigaretten geformt.

João Ubaldo Ribeiro bittet in seine Maisonettewohnung in Leblon, einem Viertel am südlichen Ende von Ipanema, das in Rio de Janeiro als Inbegriff für Reichtum und Luxus steht. Er hat die Wohnung vor 20 Jahren gekauft und im oberen Teil sein Büro mit Zugang zur Dachterrasse eingerichtet. Er sagt, dass er den Kiez eigentlich kaum verlasse, denn hier gebe es alles, was er bräuchte: Stammkneipe, Restaurant, Zeitungsladen, Apotheke. „Den Rest Rios kenne ich gar nicht.“ Auch zum wenige Hundert Meter entfernten Strand ziehe es ihn nicht: „Das Meer ist mir hier zu kalt.“ Die Aussage mag man leicht manieriert finden, aber Ubaldo Ribeiro stammt tatsächlich aus dem Nordosten Brasiliens, wo es noch heißer wird als in Rio. Vor 72 Jahren wurde Ubaldo Ribeiro dort auf der Insel Itaparica in der Allerheiligenbucht im Bundesstaat Bahia geboren. Die Insel, sie diente ihm immer wieder als Schauplatz für seine Romane, sie hat in der Literatur Lateinamerikas heute eine ähnlich mythische Stellung wie das Comala des Mexikaners Juan Rulfo oder das Macondo von Gabriel García Márquez.

Zum Gespräch steigen wir hinauf zu Ubaldo Ribeiros Büro, wo man sich von mehreren Bücherregalen umzingelt sieht. Sie sind voll gestellt mit teils jahrzehntealten Ausgaben seiner Bücher, CDs, Fotos und anderen Erinnerungsstücken. Auf einem Board entdeckt man mehrere deutsche Exemplare von „Brasilien, Brasilien“, Ubaldo Ribeiros Meisterstück von 1984, das heute als eines der Gründungsepen des Landes gilt. Der Originaltitel des mehr als 700 Seiten starken Wälzers lautet völlig unbescheiden „Viva o Povo Brasileiro“ („Es lebe das brasilianische Volk“). 1987 machte eine Sambaschule in Rio den Roman zum Thema ihres Karnevalsumzugs – ein größere Auszeichnung gibt es in Brasilien wohl kaum.

Mit der fabelhaften, vier Jahrhunderte umfassenden Saga um Menschenfresser, schwarze Walfänger, skrupellose Zuckerrohrbarone, aufmüpfige Sklaven, umherirrende Seelen, Afrikas Götter und die Liebe eines unmöglichen Paares wurde Ubaldo Ribeiro weltbekannt. Und natürlich ist er einer der mehr als 70 brasilianischen Schriftsteller, die im Oktober zur Frankfurter Buchmesse reisen, auf der Brasilien dieses Jahr Ehrengast ist. Neben Paulo Coelho wird Ubaldo Ribeiro dort wohl der meistübersetzte und meistverkaufte lebende brasilianische Schriftsteller sein – wobei ersterer ja vielen nicht als ernstzunehmender Autor sondern eher als Verfasser schnulziger Lebensweisheiten gilt.

Bevor wir das Gespräch beginnen, schaltet Ubero Ribeiro ein Diktiergerät ein. Er sagt, er zeichne seine Interviews für seine Kinder auf. Er hat drei Töchter und einen Sohn von zwei Frauen und war drei mal verheiratet – das klingt im Gegensatz zu seiner Reise-Unlust schon eher nach dem barocken Lebenswandel, wie ihn das Personal in seinen Büchern führt.

Im Gespräch soll es zunächst um die brasilianische Literatur gehen: Warum Brasilien zwar ein Land mit großartigen Autoren aber kaum Lesern sei – vor wenigen Wochen offenbarte eine Studie des Statistikinstituts IBGE, dass der durchschnittliche Brasilianer nur sechs Minuten pro Tag lese, wobei nicht klar war, was: Zeitschriften, Gebrauchsanweisungen, Bücher? Die populären Erzählungen des Landes, so hört man hier nicht selten vor der Buchmesse, steckten ohnehin im Samba. Und dann gibt es da noch diese ominöse Statistik, nach der es allein in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires mehr Buchläden geben soll als in ganz Brasilien.

Doch Ubaldo Ribeiro wehrt das Thema zwischen zwei Zigarettenzügen grundsätzlich ab. Brasilien sei zu groß und zu komplex, um es so einfach beschreiben zu können. Insbesondere einem deutschen, mit Brasilien-Klischees übersättigtem Publikum, das wenig wisse von der brasilianischen Wirklichkeit. Es habe bestimmte Erwartungen, die es erfüllt bekommen wolle, sagt Ubaldo Ribeiro. Er berichtet, wie er einmal ein Publikum in Berlin gegen sich aufbrachte, weil er zugab, dass er keine Ahnung von den Indios im Amazonas hatte, die Gegend sei wie ein anderes Land für ihn.

Die Episode hat er schon Anfang der neunziger Jahre in „Ein Brasilianer in Berlin“ notiert, seinem Erfahrungsbericht eines einjährigen DAAD-Aufenthalts in Berlin-Halensee. Darin vermutet Ubaldo Ribeiro auch, dass in Deutschland das Publikum von Dichterlesungen bezahlt werde, da man Brasilianer nur „mit vorgehaltenem Maschinengewehr“ zur Teilnahme an dem höchst sonderbaren Brauch brächte. Letzteres stimmt zwar nicht – es gibt hier selbstverständlich Autorenlesungen –, aber es veranschaulicht die Methode der ironischen Übertreibung, die Ubaldo Ribeiros Stil kennzeichnet.

Dennoch sei die Sache mit den lese-unwilligen Brasilianern natürlich nicht so einfach vom Tisch zu wischen, gibt er dann doch zu. Es verhalte sich nur eben ganz anders, als es eine Statistik auszudrücken vermöge. Erstens sei der Markt bei 200 Millionen Brasilianern immer noch groß genug; und zweitens genössen Schriftsteller in Brasilien eine angesehene Stellung. Ubaldo Ribeiro berichtet von Jorge Amado, dem größten Erzähler Bahias, der ihn vom Journalismus loseiste und förderte und zu einem seiner besten Freunde wurde. Man könne Bahia ohne Amado nicht verstehen, sagt Ubaldo Ribeiro, und damit auch nicht Brasilien: „Amado war ein Volksschriftsteller, selbst die Analphabeten weinten bei seinem Tod um ihn.“ So etwas gäbe es nur in Brasilien. Ubaldo Ribeiro will plaudern, Anekdoten ausbreiten, schwelgen, sich erinnern.

Weil sein Vater, ein Universitätsprofessor und Politiker, es nicht duldete, dass irgendjemand im Haushalt nicht lesen konnte, kam João Ubaldo Ribeiro bereits früh zur Literatur. Mit sechs Jahren musste João Romane und Gedichte durcharbeiten; später brachte sein Vater ihn dazu, das Buch eines Geistlichen komplett abzuschreiben, um sich den Stil des Autors anzueignen. Es sind wohl auch diese frühen Lektüren, aus denen Ubaldo Ribeiro bis heute das Personal für seine barocken Erzählungen schöpft. Für den „Sargento Getulio“ von 1971, seinem ersten Erfolg; oder für das skurrile Personal im „Lächeln der Eidechse“ von 1994, die später als Vorlage für eine Telenovela diente; oder für die Lebedame im bisher nicht ins Deutsche übertragenen „Casa dos Budas Ditosos“, deren sexuelle Abenteuer in Portugal noch 2009 dazu führten, dass eine große Supermarktkette den Roman aus den Läden verbannte.

Nun sagt Ubaldo Ribeiro, dass er darüber nachdenke, ein Buch mit Kurzgeschichten zu schreiben, weil er endlich wieder eine gute Ausrede haben wolle, um all die Anfragen von Universitäten und anderen Einrichtungen abzuwehren, die ihn rund um die Uhr erreichten und nur schwer abzusagen seien, wenn man sich keine Feinde machen wolle. Aber eigentlich sei die Kurzstrecke nichts für ihn, er bevorzuge den Roman, a romance, wie man auf Portugiesisch sagt. Er liebe die Ausschweifungen, die ungewöhnlichen Worte, die Üppigkeit sagt Ubaldo Ribeiro – und krümmt sich nicht zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs zu einem erschütternden Raucherhusten.

Alle paar Wochen schreibt Ubaldo Ribeiro ein langes launiges Sonntagsessay auf der Meinungsseite von Rios größter Zeitung „O Globo“. Dort hat er vor einigen Wochen bekannt, dass er die Massenproteste der brasilianischen Jugend weder verstehe noch unterstütze, weil er nicht wisse, wer dahinter stecke. Die übertrieben misstrauische Haltung bekräftigt er im Gespräch. Auch über den Rassismus im Land, eins der großen Themen in „Brasilien, Brasilien“, will er nicht sprechen, weil er die Diskussion für veraltet halte. Zu der Liste der 70 brasilianischen Autoren, die zur Buchmesse nach Frankfurt eingeladen wurden und die dafür kritisiert wurde, dass lediglich ein schwarzer und ein indigener Autor darauf sind, sagt er: „Ich kenne die Liste nicht.“ João Ubaldo Ribeiro, so scheint es, hat sich heute ein bisschen in einer Verweigerungshaltung eingerichtet.

Seit zwanzig Jahren ist Ubaldo Ribeiro Mitglied der hochehrwürdigen Academia Brasileira de Letras, in der die vierzig herausragenden Schriftsteller des Landes versammelt sind. Am Abend findet ein Treffen in der Akademie statt. Aber Ubaldo Ribeiro hat keine Lust hinzugehen. „Die reden doch nur Dummheiten“, sagt er. Stattdessen begleitet er den Besuch hinunter auf die belebte Straße, um noch ein paar Besorgungen im Viertel zu erledigen und vielleicht etwas trinken zu gehen.