Der Fernsehspot dauert rund dreieinhalb Minuten und besteht einzig aus Zahlen, Errungenschaften und Rekorden.
Von triumphaler Musik unterlegt, listet eine Männerstimme auf: „36 Millionen Brasilianer sind der extremen Armut entkommen“, „40 Millionen Brasilianer sind in die Mittelschicht aufgestiegen“, „19 Millionen versicherungspflichtige Jobs sind entstanden“, „,Bolsa Família’ – bestes Sozialtransfer-Programm der Welt“, „,Brasilien ohne Elend’ – größtes Armutsbekämpfungsprogramm der Welt“, „Brasilien – zweitgrößter Nahrungsmittelexporteur der Welt“, „Niedrigste Zinsen der Geschichte“, „Elektrizität für 14,7 Millionen Menschen“, „Fußball-WM 2014, Olympische Spiel 2016“, „Brasilien, weltweit Führer im Umweltschutz“.
So geht das immer weiter – bis der Bildschirm am Ende weiß wird und die Stimme sagt: „PT – Zehn Jahre an der Regierung“. Dazu wird der fünfzackige rote Stern eingeblendet, das Symbol von Brasiliens Arbeiterpartei Partido dos Trabalhadores (PT).
Diese kam 2002 an die Macht, als der ehemalige Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva zum Präsidenten des fünftgrößten Landes der Erde gewählt wurde. Lula hatte die Partei 22 Jahre zuvor als linke Opposition zur Diktatur mitgegründet. Er gewann die Menschen mit dem Versprechen für sich, endlich die Armut und die eklatante Ungleichheit in Brasilien zu beenden. Ein gerechtere, demokratischere Nation sollte entstehen und der immense Reichtum des Landes allen zugute kommen.
Schon bald nach dem Wahltriumph rief Lula groß angelegte Sozialprogramme ins Leben – etwa „Bolsa Família“, eine Art Grundsicherung für die Armen –, die auch auch möglich waren, weil die brasilianischen Staatseinnahmen dank hoher Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt sprudelten und Brasilien den Globus regelrecht mit Soja, Zucker und Eisenerz überschwemmte. Die Wirtschaft des Landes wuchs in den Folgejahren um durchschnittlich vier Prozent, Brasilien eliminierte seine Schulden beim Internationalen Währungsfonds, und der Mindestlohn wurde kontinuierlich angehoben, von 200 Reais auf heute 678 Reais, umgerechnet 230 Euro.
2010 wählten die Brasilianer dann Lulas Parteikollegin Dilma Rousseff zur Präsidentin. Sie setzte seinen Kurs fort: Exporte und Sozialprogramme. Auch international wurde Brasilien jetzt als das „Land der Zukunft“ betrachtet, als das es schon so lange gegolten hatte. Der britische „Economist“ titelte 2010 zum Bild einer fliegenden Christus-Statur: „Brasilien hebt ab“. Alles schien gut zu sein, und es war eine ausgemachte Sache, dass Rousseff bei den Wahlen im Oktober 2014 wiedergewählt würde – wie es der oben zitierte siegessichere PT-Werbespot belegt.
Bis, ja, bis dann im Juni dieses Jahres für die meisten Beobachter völlig überraschend mehrere Millionen wütende Brasilianer auf die Straße gingen und eine gerechtere und demokratische Nation forderten. Sie verlangten bessere Schulen, bessere Krankenhäuser, bessere Verkehrssysteme, mehr Sicherheit und ein Ende der Korruption in Politik und Wirtschaft. „Entschuldigen Sie die Störung“, stand auf vielen Plakaten, „wir verändern gerade Brasilien.“ Den roten Stern der PT sah man auf den Demonstrationen so gut wie nie. Aber dort, wo er auftauchte, kam es sofort zu Gerangel und Schlägereien. Wir haben die Nase voll von Brasiliens Parteien, hörte man häufig. Und auch den Slogan: „Dilma raus!“
Was war passiert? Stimmte das schöne Bild, das Brasiliens Regierung vom Land malte, nicht mit den täglichen Erfahrungen der Demonstranten überein? Hatte der Aufstieg Brasiliens zur sechstgrößten Ökonomie der Welt zwar für viele Menschen persönliches Fortkommen bedeutet, sich aber nicht in nachhaltigeren Reformen niederschlagen? Fühlten sich viele Brasilianer jetzt zwar als Konsumenten, aber nicht als Bürger ernst genommen? Wie kann es sein, fragten sie sich, dass unsere öffentliche Infrastruktur immer noch der eines Entwicklungslandes entspricht?
Dass all diese Widersprüche just in einem Moment aufbrachen, in dem die Wirtschaft stagnierte, die Lebenshaltungskosten dramatisch stiegen und die Regierung das Land für die sportlichen Großereignisse herauszuputzen begann, war für viele Beobachter kein Zufall. Klar war auch, dass die Protestbewegung sich aus vielen unterschiedlichen Interessen, Bewegungen und Organisationen zusammensetzte, die sich für einen kurzen historischen Moment vereint hatten, um ihre Enttäuschung über eine Regierung zu artikulieren, die sie einst als Verbündete betrachtet hatten. Die PT, so ihr Vorwurf, wage sich nicht an die Veränderung der politischen und ökonomischen Strukturen, welche die Wurzeln für Brasilien Grundübel seien: Korruption und Ungleichheit.
Ein übergreifendes Thema bei den Protesten war das Unbehagen über den Umbau von Brasiliens Städten und der Anstieg der Preise. Als Indikator kann der durchschnittliche Quadratmeterpreise gelten, der heute beim Kauf einer städtischen Wohnung unglaubliche 2450 Euro beträgt. Der Stadtforscher Gustavo Mehl von Rio de Janeiros Bundesuniversität UFRJ bezeichnet den Prozess ironisch als „Aufwertung“. Mehl ist Sprecher des Volkskomitees zu WM und Olympia, einem Bündnis von Bürgerbewegungen, das gegen die drastischen Eingriffe kämpft, denen Rio im Vorfeld der Großereignisse unterzogen wird. Das Bündnis hat sich über die Jahre den Ruf erarbeitet, seriöse Daten zu sammeln, kohärent zu argumentieren und Irregularitäten aufzudecken. Außerdem hat es Ableger in anderen WM-Austragungsorten und spielt bei den Massenprotesten eine mobilisierende Rolle. Man könnte sagen, dass es stellvertretend für eine Vielzahl vieler neuer linker Gruppierungen steht, die sich um spezifische Themen herum gebildet haben, ohne sich politisch vereinnahmen zu lassen oder Führerschaft zu beanspruchen.
Auf einer Diskussionsveranstaltung zu „Mega-Events und Menschenrechtsverletzungen“ Mitte September in Rios Stadtteil Lapa, bringt Gustavo Mehl die Entwicklung der Stadt auf den Punkt: „Es findet eine gewaltsame Umstrukturierung statt. Die Armen werden mit fragwürdigen Begründungen an die Peripherien gedrängt, während das Zentrum für die Reichen hergerichtet wird. Diesen Prozess beobachten wir in zahlreichen Orten Brasiliens. Die Interessen der Reichen gehen vor das Allgemeinwohl.“
Der Zorn des 30-jährigen Mehl richtet sich dabei nicht gegen eine bestimmte Partei. Zwar gehören der Bürgermeister von Rio und der Gouverneur des gleichnamigen Bundesstaats zur konservativen Partei PMDB, doch es ist ein Parteienbündnis, das sie an der Macht hält. Eine maßgebliche Rolle darin spielt die PT. In Rio etwa leitet sie die wichtige Bauverwaltung, die über die umstrittenen Umsiedlungen von Favelabewohnern aus potentiell lukrativen Gegenden an den Stadtrand entscheidet – und dazu auch das Regierungsprogramm „Mein Haus, mein Leben“ instrumentalisiert. Dass Rio von den Immobilien- und Baukonzernen regiert würde, sagt Mehl. Und dass es nicht das erste Mal in der Geschichte sei, dass die Stadt für die Bedürfnisse des Kapitals zugerichtet werde. „An den Machtstrukturen hat sich nichts geändert“, so Mehl.
Der Analyse schließt sich Sonia Fleury an. Die 63-Jährige Politologin lehrt an der renommierten Getúlio-Vargas-Stiftung in Rio de Janeiro und ist wegen ihrer pointierten Meinung eine gefragte Kommentatorin in brasilianischen Medien. Bei einem Besuch in ihrer Wohnung im Stadtteil Humaitá, erklärt sie die Proteste so: „Die Arbeiterpartei PT hat zehn Jahre lang versucht, soziale Integration mittels Steigerung der Kaufkraft herzustellen, aber nicht über die Schaffung einer egalitären Gesellschaft. Viele haben jetzt Kreditkarten, jedoch nicht das Gefühl, Teil der Gesellschaft zu sein. Die Inklusion über den individuellen Konsum ist gescheitert. Die kollektiven Güter, die entscheidend für die Lebensqualität sind, wurden völlig vernachlässigt: Bildung, öffentlicher Nahverkehr, Gesundheit, Sicherheit.“
Es stimme zwar, gesteht Fleury zu, dass die PT viel in den Kampf gegen die Armut investiert und in kurzer Zeit sichtbare Ergebnisse erzielt habe. Doch erstens sei das Niveau sehr gering – zur Mittelklasse zählt man nach den Kriterien der Regierung bereits ab einem Monatseinkommen von 291 Reais, umgerechnet 100 Euro; und zweitens sei das Projekt der Verfassung von 1988 aufgegeben worden. Darin wurde der Aufbau eines universellen Gesundheits- und Bildungssystems angestrebt, ein Sozialstaat, der für wirkliche Chancengleichheit sorgt.
Fleury erkennt an, dass Dilma Rousseff als einzige Politikerin ernsthaft versucht habe, auf die Massenproteste zu antworten, indem sie ein Plebiszit über eine umfassende Reform des politischen Systems vorschlug. Doch der Vorstoß wurde vom Kongress, der von zahlreichen Parteien und Partikularinteressen dominiert wird, abgeschmettert. „Daran ist die PT selbst schuld“, sagt Fleury. Sie hat sich zum Machterhalt mit den alten Eliten des Landes ins Bett gelegt, die jeden strukturellen Wandel bekämpfen. Die sozialen Bewegungen, mit deren Hilfe sie an die Macht gekommen war, ignorierte die PT hingegen. „Ich unterstütze die PT“, sagt Sonia Fleury. „Aber der Partei ist die Fähigkeit abhanden gekommen, Widerspruch auszuhalten. Man hat mich auf Versammlungen nicht reden lassen, sondern diffamiert. Wenn man die PT von links kritisiert, wird man als Feind betrachtet.“
Zu den Eliten, von denen Fleury spricht, zählt Brasiliens Agro-Industrie. Sie betreibt die stetige Ausdehnung ihrer riesigen Latifundien ohne Rücksicht auf ökologischen Folgen. Wenn man heute Brasilien mit Flugzeug von Süd nach Nord überquert, ist man geschockt über die riesigen baumlosen Flächen mit landwirtschaftlicher Monokultur. Stundenlang sieht man am Boden nur Sojafelder und Rinderweiden.
Im aufgeräumten Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro richtet sich die Umweltexpertin Maureen Santos ein. Sie hat gerade ihren neuen Job angetreten. „Damals, als Lula gewählt wurde“, sagt sie, „hatten wir große Hoffnungen. Sie beruhten auf einem Missverständnis.“ Wie die meisten Umweltschützer ist Santos tief enttäuscht von der Arbeiterpartei. Die PT sei eine „Entwicklungslinke“, sagt sie, die einzig auf die Wirtschaft setze. Es bedeute, dass die kurzfristigen Interessen der Exportindustrie den langfristigen Interessen der Umwelt vorgezogen würden: „Jeder Gedanke an Nachhaltigkeit ist dieser Regierung fremd.“
Es habe bereits 2003 mit der Zulassung für gentechnisch verändertes Saatgut begonnen, beginnt Santos ihre lange Liste mit Klagen. 90 Prozent der brasilianischen Sojabohnen sind heute genmanipuliert, ebenso 60 Prozent der Maisernte und 55 Prozent der Baumwolle. Damit einher geht der erhöhte Einsatz von Breitbandpestiziden. „Keine Bevölkerung der Welt nimmt heute mehr Agrochemikalien mit der Nahrung zu sich, als die brasilianische“, sagt Santos. Im Schnitt seien es jährlich 5,2 Liter pro Person. Die Fläche, auf der heute Sojabohnen in Brasilien, dem zweitgrößten Produzenten der Welt, angepflanzt werden, beträgt rund 28 Millionen Hektar – die dreieinhalbfache Fläche Österreichs. Im Jahr 2001 war es nur halb so viel. Und die Industrie drängt weiter auf Expansion. In Brasiliens Kongress hat sie einen willfährigen Verbündeten.
Dieser stimmte letztes Jahr einem neuen Waldgesetz zu. Der „Código Florestal“ sieht eine Amnestie für illegale Rodungen vor, außerdem die Verkleinerung des Schutzwaldes entlang von Flüssen um bis zu 80 Prozent. „Aber was erwartet man“, fragt Santos, „wenn der Vorsitzende des Umweltausschusses Blairo Maggi heißt?“ Der ehemalige Gouverneur von Mato Grosso ist nicht nur der größte Landebesitzer des Bundesstaats, sondern auch der größte Sojabauer. In seiner Amtszeit wurde in Mato Grosso Regenwald in bis dahin nicht gekanntem Ausmaß vernichtet. „Die Umwelt ist die große Verliererin der letzten Dekade“, sagt Santos.
Und mit ihr die indigene Bevölkerung, die den Expansionsplänen der Industrie im Weg stehen. Im März dieses Jahres zählte die Regierung alleine 4500 Anträge internationaler wie brasilianischer Minenkonzernen, die in insgesamt 17 Indianerreservaten nach Gold und Kupfer schürfen will. Nun befinden sich die Indios in erhöhter Alarmbereitschaft, denn von der Regierung Rousseff erwarten sie keine Hilfe mehr.
Ebenso enttäuscht sind Landlose und Kleinbauern. In Brasilien kontrollieren rund 50.000 landwirtschaftliche Großbetriebe (ein Prozent der Bauern) rund 100 Millionen Hektar Land. Das sind fast 50 Prozent des Agrarbodens. Dennoch gewährte die Regierung den Großbetrieben im Jahr 2010 so viele Subventionen, wie allen brasilianischen Kleinbauern in den acht Jahren davor zusammen. Und dass, obwohl die Großbauern nur 420.000 Personen beschäftigen, während die Kleinbetriebe mehr als 14 Millionen Menschen Arbeit geben.
Für Alexandre Conceição aus der Führungsriege der Landlosenbewegung Movimento sem Terra (MST) ist das der letzte Beleg dafür, dass die Regierung die versprochene Landreform aufgegeben hat und auf das Agrobusiness setzt. Im Interview sagt Conceição, dass in den letzten 20 Jahren keine Regierung weniger Latifundien enteignet habe als die von Dilma Rousseff. Im Jahr 2013 sei es noch keine einzige gewesen. Der MST-Führer fordert eine komplette Neuorganisation des Bodens zugunsten von kleinbäuerlichen Betrieben und kündigt an: „Wir werden wieder verstärkt unproduktives Land besetzen.“
Tatsächlich haben die Landebesetzungen in Brasilien in den letzten Jahren zugenommen. Nicht nur landlose Bauern greifen zu diesem Mittel, sondern auch immer mehr indigene Gruppen. Auf die Aktionen antworten die Großgrundbesitzer meist aggressiv. Der Conselho Indigenista Missionário (Cimi) registrierte 2012 einen Anstieg der gewalttätigen Vorfälle um 237 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Insgesamt 60 Indios wurden 2012 umgebracht, neun mehr als 2011. Die meisten Morde geschahen mit 37 in Mato Grosso, Brasiliens Sojastaat. Seit 2003 wurden in Brasilien mehr als 500 Indios getötet. Der Präsident der Cimi, der österreichische Bischof Erwin Kräutler, macht für den Anstieg der Morde den Staat mitverantwortlich, der zu nachlässig bei der Markierung und dem Schutz indigener Territorien vorgehe.
Im Juli 2013 traf sich Präsidentin Dilma Rousseff zum ersten Mal seit ihrem Amtsantritt mit einer Abordnung der indigenen Völker Brasiliens. Im Anschluss veröffentlichte das Präsidialamt ein Foto von Dilma im Kreis lachender Indios. Die an dem Treffen beteiligte Sônia Guajajara, Koordinatorin der Organizações Indígenas da Amazônia Brasileira (Coiab), kommentierte: „Unsere Beziehung lässt sich nicht anhand eines Fotos, sondern anhand von Taten beurteilen. Die Fakten offenbaren, dass diese Regierung die Rechte der Indigenen jeden Tag verletzt.“
Einen ähnlichen Satz sagt Paulo Cesar dos Santos. Der Geografielehrer ist leitendes Mitglied der linken Gewerkschaft Central dos Trabalhadores e Trabalhadoras do Brasil (CTB) in Rio de Janeiro. Am Rande einer enttäuschend kleinen Demonstration zum brasilianischen Unabhängigkeitstag diskutiert er mit einem Jugendlichen, der sich zum Anarchismus bekennt. „Eure Steine auf Banken bringen zwar nichts“, sagt dos Santos, „doch der wirkliche Vandale ist der Staat, schau dir nur unsere Gehälter hat.“ Seit einigen Wochen streiken dos Santos und seine Lehrerkollegen für höhere Löhne. Sie verdienen in Rio monatlich rund 2000 Reais, umgerechnet 670 Euro. Im brasilianischen Durchschnitt ist es weit weniger. „Aber wir unterrichten 40 Schüler pro Klasse und sollen die zukünftigen Bürger dieses Landes formen“, sagt dos Santos. Es ist daher keine Überraschung für den 57-Jährigen, dass Brasilien bei der Pisa-Studie auf Platz 53 von 65 Nationen landete. „Viele Lehrer sind selbst schlecht ausgebildet und überfordert.“ Es ist ein ebenso vielsagender Widerspruch, dass Brasiliens Lehrer zu den am schlechtesten bezahlten der Welt gehören, während sich das Land den zweitteuersten Kongress mit Abgeordnetendiäten von umgerechnet 9000 Euro gönnt.
Dos Santos ist seit 25 Jahren Gewerkschaftsmitglied, vor seinem Job als Lehrer war er Metallarbeiter. Außerdem gehört er der kommunistischen Partei Brasiliens PCdoB an, die mit der CTB verbündet ist. Dass viele Analysten die Parteien und Gewerkschaften seit den Jugendprotesten an den Rand gedrängt sehen, hält dos Santos für Quatsch: „Man braucht feste Strukturen und eine Organisation, um politisch etwas verändern zu wollen.“ An den jungen Anarchisten gewandt, sagt er: „Ihr habt noch nie irgendetwas verändert.“ Tatsächlich hat die junge brasilianische Protestbewegung nie mehr so viele Menschen mobilisieren können, wie noch im Juni, als parallel der Fifa-Confed-Cup stattfand. Das Schwächeln hängt auch damit zusammen, dass die Bewegung horizontal und im Schwarm denkt und sowohl Persönlichkeiten wie feste Strukturen ablehnt. Sie hat es bisher versäumt, dem Protest ein neue, bleibende Form zu geben.
Dennoch gibt Gewerkschaftsmann dos Santos zu, dass auch die letzte große Gewerkschaftsdemo in Rio Anfang Juli nur sehr dürftig besucht war. Ebenso schwach wurde auch der Aufruf zum Generalstreik befolgt, obwohl ihn die meisten großen Gewerkschaften unterstützt hatten. Hängt es damit zusammen, dass die Arbeiterorganisationen in Brasilien an Parteien gebunden sind und somit als Teil des etablierten Politiksystems gelten? Dos Santos verneint das: „Die jungen Menschen rufen jetzt, Brasilien sei aufgewacht. Dabei hat Brasilien nie geschlafen. Wir Arbeiter kämpfen seit dreißig Jahren für mehr Gerechtigkeit.“ Es gehe völlig unter, dass nur der Druck der CTB dazu geführt habe, dass die Jobs von zehn Millionen Arbeitern formalisiert worden seien. Aber natürlich müssten auch die Gewerkschaften sich hinterfragen und an die neuen Realitäten und Kommunikationsformen anpassen.
Der PT-Regierung in Brasilia macht dos Santos einen weit verbreiteten Vorwurf: „Sie hat nie mit dem neoliberalen Entwicklungsmodell gebrochen. Brasilien ist immer noch eins der Länder mit der ungerechtesten Verteilung des Wohlstands auf der Welt.“
Dem widerspricht selbst Präsidenten Dilma Rousseff nicht. Auf einer Wahlkampfveranstaltung Mitte September in Minas Gerais ruft sie: „Es reicht nicht, wenn das Bruttoinlandsprodukt wächst, es muss für euch wachsen. Unser Land war eins der ungleichsten der Welt. Wir garantieren, dass der Kampf gegen die Ungleichheit unumkehrbar ist.“ Nach zehn Jahren an der Regierung ist das kein Eingeständnis des Scheiterns. Nur, ein subtiler Hinweis darauf, dass man vieles falsch gemacht hat.