Rio: Wo ist Amarildo?

Rio: Wo ist Amarildo?

Ein Mann wird auf der Straße von Polizisten festgenommen. Es gibt keine Vorwürfe gegen ihn, lediglich seine Personalien sollen auf der Wache festgestellt werden.

Zeugen sehen, wie er die Polizeistation betritt, aber niemand sieht, wie er sie wieder verlässt. Er kehrt nicht Nachhause zurück und ist wie vom Erdboden verschluckt. Die Polizei hat keine Erklärung für sein Verschwinden – versetzt aber die vier an der Aktion beteiligten Beamten.

„Wo ist Amarildo?“ fragen sich nun immer mehr Brasilianer. Der 43-jährige Hilfsarbeiter verschwand vor etwas mehr als einem Monat, und nicht einmal konservative Medien zweifeln noch daran, dass er von Polizisten umgebracht wurde. Amarildo de Souza lebte mit seiner Frau und sechs Kindern in der Favela Rocinha, einem der Armenviertel, in dem die Polizei für ihr rücksichtsloses Vorgehen berüchtigt ist. Noch vor einigen Monaten hätte der Fall deswegen wahrscheinlich nicht viel Aufmerksamkeit erregt. Doch seit den Massendemonstrationen vom Juni steht der brasilianische Staat unter verstärkter Beobachtung. Die Bewohner Rocinhas gingen bereits mehrfach auf die Straße und forderten Aufklärung. Auf Facebook wurde eine Seite eingerichtet, Prominente melden sich zu Wort, Amnesty International hat sich eingeschaltet und sogar in London und New York sichtete man schon Transparente: „Onde está o Amarildo?“

Der Fall gilt als endgültiger Beweis dafür, dass etwas faul ist im Staate Brasilien: Amarildo de Souza ist zum Symbol für die Kriminalität der brasilianischen Polizei geworden. Nur wenige Wochen vor Amarildos Verschwinden ermordeten Beamte der Eliteeinheit Bope bei einer Racheaktion in Rios Favela Maré neun Menschen. Zuletzt wurde bekannt, dass im Bundesstaat Rio de Janeiro seit 1993 rund 91000 Personen verschwunden sind. Die Zahlen präsentierte der Soziologe Fábio Araújo nach Auswertung von Statistiken des staatlichen Sicherheitsinstituts ISP. Er sieht die Schuld bei der Polizei, Polizeimilizen sowie die Drogenmafia. Brasiliens große konservative Zeitung “O Globo” titelte “Wo sind die Amarildos?”

Was den Fall des Hilfsarbeiters besonders heikel macht, ist, dass die an der Festnahme beteiligten Beamten zu Rios Befriedungspolizei UPP gehören. Die Einheit wird seit 2008 in die Favelas geschickt, um die bewaffnete Macht der Drogengangs zu brechen. Sie gilt als das zentrale Element, um Rio de Janeiro im Vorfeld der Fußball-WM und der Olympischen Spiele sicherer zu machen. Wurde die Strategie anfangs auch international als Erfolg gefeiert, mehren sich in letzter Zeit die Zweifel. Denn weder hat man die Drogengangs zerschlagen – der Handel geht unvermindert weiter –, noch genießt die UPP bei den Bewohnern der mehr als 30 besetzten Favelas einen guten Ruf. Ihre Beamten gelten als selbstherrlich und unerfahren, auch Fälle von Korruption hat es schon gegeben. Viele Favelabewohner bemängeln zudem das Fehlen der viel dringender benötigten Investitionen in Infrastruktur, Gesundheit und Bildung.

Amarildo De Souza lebte mit seiner Familie in einem extrem armen Teil der insgesamt 70000 Einwohner zählenden Favela Rocinha: Offene Abwässerkanäle verlaufen neben den winzigen Gassen, die Menschen leiden unter Tuberkulose und Hautkrankheiten. Außerdem hat hier die Drogengang Amigos dos Amigos (ADA) nach wie vor das Sagen. In der Polizei ist nun ein interner Streit um Amarildos Verschwinden ausgebrochen. Während die einen versuchen, ihn und seine Familie in die Nähe der ADA zu rücken, verurteilen fortschrittlichere Kräfte im Apparat dies als die alte Ablenkungstaktik.

Fakt ist, dass am Tag des Verschwindens von de Souza eine Razzia in Rocinha stattfand, bei der 300 Polizisten 30 Drogendealer festnahmen. De Souza war an dem Tag, einem Sonntag, fischen gewesen. Als er am Abend Bier kaufen gehen wollte, setzte ihn ein UPP-Polizist fest, den die Bewohner der Favela wegen seines Äußeren „Affengesicht“ rufen. De Souza hatte auch einen Spitznamen: „Ochse“ – er trug oft Kranke über die steilen Treppen des Viertels. Offenbar war de Souza mit besagtem Polizisten schon öfter aneinandergeraten, die Favelabewohner sagen über den Beamten, dass es ihm Spaß gemacht habe, sie zu schikanieren. Als de Souzas Frau Elizabete später auf die Polizeiwache geht, um etwas über den Verbleib ihres Mannes zu erfahren, sagt man ihr, er würde bald freigelassen, es habe ein Missverständnis gegeben, sie solle zuhause warten. Sie wartet bis heute. Erst letzten Donnerstag kam dank eines GPS-Geräts heraus, dass das Polizeiauto, das Amarildo de Souza transportierte in weit von Rocinha entfernten Stadtteilen Rios unterwegs war.

Wegen des wachsenden öffentlichen Drucks hat sich auch Rios Gouverneur Sérgio Cabral mit Elizabete de Souza getroffen und ihr angeboten, sie in ein Zeugenschutzprogramm aufzunehmen. Offenbar hat es anonyme Drohungen gegen sie gegeben. Sie entschied sich dagegen. Seltsam ist, dass die Überwachungskameras rund um die Polizeistation an besagtem Abend nicht funktioniert haben sollen. „Die glauben, dass die Armen auch dumm sind“, kommentierte Elizabete de Souza.