Everaldo Oliveira trippelt nervös mit den Füßen. Der Wagen des Papstes muss gleich in die Favela einbiegen, die Motorradeskorte ist schon zu sehen. Wird alles glatt gehen?
Seit Mai hat Oliveira den Besuch des Oberhaupts der katholischen Kirche in seiner kleinen Gemeinde vorbereitet. Der Müll entlang der einzigen Straße des Orts wurde weggeräumt, und der Weg, den der Papst zu Fuß laufen will, neu asphaltiert. Die Stadt ließ neue Stromleitungen legen und beschnitt die wenigen Bäume in Varginha, einer Gemeinde am Rande des Favelakomplexes Manguinhos im Norden Rio de Janeiros.
Rund 1000 Familien wohnen hier in selbstgebauten, oft improvisierten Häusern auf einem Stück Land zwischen zwei stinkenden Wasserkanälen und dem ehemaligen Gazastreifen.
So nannte man bis vor kurzem eine Straße, auf der regelmäßig Schießereien zwischen der Polizei und einer Drogengang stattfanden. Seit eine Einheit von Rios Befriedungspolizei UPP in Manguinhos stationiert wurde, sind die Schießereien vorbei. „Gedealt wird trotzdem“, sagt Oliviera. „Heute ist aber etwas anderes wichtiger.“
Er meint vor allem die Frage, welches Haus der Papst betreten wird. Sechs katholische Familien hat Oliveira mit einer Kommission ausgesucht, eine davon soll der Papst besuchen. Doch welche? Das muss Franziskus spontan auf dem 150 Meter langen Weg zwischen der kleinen Kirche am Ortseingang und dem Sportplatz in der Ortsmitte entscheiden.
Vor seinem Rio-Besuch hatte der Papst den ausdrücklichen Wunsch geäußert, eine Favela zu besuchen. Es entspricht seiner Haltung zu den Armen, die er ins Zentrum seines Redens und Wirkens gestellt hat. Warum sich der Papst von den fast 1000 Favelas in Rio aber Varginha herausgesucht hat, ist nicht ganz klar. Vielleicht weil Mutter Teresa in den 80er Jahren in Varginha war? Damals wohnten die Menschen noch in Häusern auf Stelzen im Sumpf, und Mutter Teresa konstatierte: So kann ein Mensch nicht leben.
Everaldo Oliveira meint, dass der Papst wegen der kleinen katholischen Kirche nach Varginha komme. Sie ist nach 42-jähriger Bauzeit in diesem Monat fertig geworden. „Wir haben sie einzig mit Geldern aus der Kollekte und Spenden finanziert“, kann er noch sagen, dann wird er weggezogen. Das Papamobil biegt um die Ecke des Gazastreifens. Im selben Moment öffnet der Himmel seine Schleusen. Wieder einmal.
So ist das seit Tagen, wenn der Papst irgendwo in Rio erscheint. Es gießt, ist kühl, windig und grau, die Wolken hängen tief. Unter normalen Umständen wäre das keine Zeile wert, so ist das eben manchmal im subtropischen Winter, doch jetzt hat der Dauerregen sogar den Ablauf des seit Monaten geplanten Weltjugendtags durcheinander gebracht. Nur dank der guten Laune der Pilger versinkt das Treffen nicht im Chaos.
Kurzerhand hat das Rathaus die für Sonntag geplante riesige Abschlussmesse verlegt. Statt auf dem 50 Kilometer vor der Stadt gelegenen „Glaubensfeld“ bei Guaratiba soll sie nun am Strand der Copacabana stattfinden. Der ursprünglich vorgesehene Platz gleicht nämlich einem Schlammloch, und den zwei Millionen erwarteten Pilgern wollte man dann doch kein katholisches Woodstock zumuten.
Dabei hatten Kritiker genau vor dieser Situation gewarnt, der Bürgermeister und der Gouverneur von Rio de Janeiro aber hielten an ihren Plänen fest. Munter hatten sie bei Guaratiba fällen, roden und planieren lassen sowie die Errichtung einer 75 Meter langen Bühne samt 32 LED-Großbildschirmen und 52 Soundtürmen vorangetrieben. Ihr Starrsinn mag auch damit zu tun gehabt haben, dass einer der Besitzer der zwei Millionen Quadratmeter großen Fläche einer der mächtigsten Transportunternehmer Rio de Janeiros ist und fest zum Filz der Stadt gehört.
Es war nicht die einzige Panne bei diesem Papstbesuch. Erst verfuhr sich der Fahrer des päpstlichen Kleinwagens auf dem Weg vom Flughafen ins Zentrum und manövrierte den Pontifex in eine Menge begeisterter Pilger, die es sich nicht nehmen ließen, den überraschten Franziskus durchs offene Wagenfenster anzufassen. Wenige Stunden später wollte Rios Gouverneur Sérgio Cabral dann offenbar beweisen, dass sein Sicherheitsapparat doch funktioniert und schickte die Militärpolizei gegen Demonstranten los, die dem Papst vor dem Gouverneurspalast zuriefen: „Franziskus, du bist bei den Falschen!“
Am nächsten Tag sorgte ein Stromausfall ausgerechnet kurz vor der Eröffnungsmesse an der Copacabana für den Totalstillstand der beiden Metro-Linien Rios. Zwei Stunden lang ging gar nichts. Die Busse waren überfüllt, Taxifahrer nahmen unverschämte Preise, und vor den Toiletten bildeten sich Schlangen, weil die katholische Jugend nicht auf die Straße pinkelt, wie es hier bei Karneval und Fußballspielen üblich ist. Man mochte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn die Stadt diese Woche nicht zu Ferien erklärt hätte, um wenigstens die Berufstätigen aus dem Auflauf herauszuhalten.
Wie wird nun die mehrstündige Abschlussveranstaltung am Sonntag an der Copacabana ablaufen? Einen Vorgeschmack gab es, als der Papst von der riesigen Bühne am Strand zu einer Millionen Gläubigen sprach. Da stand man sich bereits im nassen Sand auf den Füßen, und wie bei einem Rockkonzert wurden Ohnmächtige aus der Menge gezogen. Taschendiebe nutzten die Situation, wie einige amerikanische Pilger fassungslos berichteten: „Jesus, I can’t believe this!“ Eine Zeitung titelte bereits: „Rio macht sich lächerlich.“
Trotz alledem legen die Besucher des Jugendtags eine stoische Freude an den Tag. Wann immer sie sich mit ihren bunten Rucksäcken begegnen, wird gegrüßt, gelacht, spontan gesungen oder gebetet.
Papst Franziskus wiederum macht bei seinem ersten öffentlichen Großauftritt den Eindruck, als hätte er sein ganzes Leben lang nur darauf gewartet, das Papstamt auszufüllen. Anders als sein Vorgänger, der sich oft unwohl in seiner Rolle zu fühlen schien, tritt er den vielen Menschen, die er trifft, treffen will, federnd, mit selbstverständlicher Lockerheit entgegen. In Anbetracht des miesen Wetters rief er den Pilgern an der Copacabana zu: „Ich habe gehört, dass die Bewohner von Rio Regen und Kälte nicht ausstehen können. Euer Glaube ist stärker als Regen und Kälte.“
Die Brasilienreise von Papst Franziskus, dem ersten Lateinamerikaner und Nicht-Europäer in dem Amt, war mit hohen Erwartungen verknüpft worden. Die einen erhofften sich von dem bescheidenen Argentinier endlich eine Stärkung der katholischen Kirche gegenüber den evangelikalen Kirchen in Lateinamerika. Die anderen erwarteten klare politische Worte zur ungerechten Verteilung des Reichtums auf dem Kontinent. Ebenso wollte man in Franziskus den Verbündeten der jungen Demonstranten sehen, die seit Anfang Juni gegen die korrupte brasilianische Elite aus Wirtschaft und Politik auf die Straße gehen.
Dass dieser Papst allerdings so leicht nicht einzuordnen ist, bewies er, als er sich beim Besuch einer Drogentherapieklinik überraschend in die Debatte um die Legalisierung von Rauschmitteln einmischte. Vor ehemaligen Abhängigen verdammte Franziskus die Legalisierung der Drogen. Er empfahl stattdessen: Nächstenliebe.
Ebenso zerschlagen haben sich die Hoffnungen von Schwulen und Lesben auf eine tolerantere Haltung der Kirche. In einem „Bioethischen Handbuch“, das an die Pilger in Rio verteilt wurde, wird die Homo-Ehe scharf verurteilt. Pikant dabei: Erst vor wenigen Monaten hat Brasilien als drittes Land Lateinamerikas die gleichgeschlechtliche Ehe zugelassen. Schwule und Lesben sind entsetzt, weil sie in Brasilien oft brutaler Gewalt ausgesetzt sind.
In der Favela Varginha ist Rayana Mayara hingegen verzückt. Die 18-jährige Schwarze wiegt im strömenden Regen ihren zwei Monate alten Säugling Ryan auf dem Arm. Nur ein paar Augenblicke zuvor war der Papst um die Ecke gekommen und hatte den Säugling spontan gesegnet und geküsst. Nun steht Rayana für fünf Minuten im Kameralicht von „TV Globo“, deren Reporterin ihr ein Mikrofon unter die Nase hält. Rayana schmiss mit 14 Jahren die Schule, mit 16 bekam sie ihren ersten Sohn, heute geht sie ab und zu putzen. Eigentlich sei sie ja gar keine Katholikin sagt sie, sondern besuche die evangelikale Kirche in Varginha.
Papst Franziskus hört das nicht mehr, er ist mit seinem Gefolge aus Bischöfen und Sicherheitsleuten unter einem weißen Regenschirm die Hauptstraße von Varginha schon weiter hinuntergelaufen, bedrängt von Hunderten Menschen, die ihn berühren, mit ihm sprechen, sich segnen lassen wollen, ihn fotografieren und filmen.
Einmal macht er vor einem winzigen Haus halt und schüttelt der 82-jährigen Bewohnerin die Hand. Sie war von Everaldo Oliveira als eine mögliche Besuchskandidatin ausgewählt worden. In Erwartung des Papstes hat sie Kuchen und Kaffee vorbereitet, aber der Papst will nicht zum Kränzchen bleiben, küsst ihr nur die Hand, und sie erleidet einen Schwächeanfall. Zwei Polizisten tragen sie weg.
Franziskus entscheidet sich für das nächste Haus, die Nummer 81. Es gehört Manoel Penha, einem Elektriker und seiner Frau Maria Lúcia. Ihre Bleibe ist nicht ärmlich, nur einfach, mit Sofa, Fernseher, Schrankwand, Küche und Bad. Man habe sich nett unterhalten, wird Maria Lúcia der versammelten Presse berichten, als Franziskus wieder weg ist. „Ich fühle mich jetzt nicht als etwas Besseres.“ Ihr gefalle die Bescheidenheit des Papstes, sagt sie immer wieder, ein Satz, den man in Varginha oft von den Menschen hört.
Den nächsten Stopp macht Franziskus vor dem Gemeindehaus der größten evangelikalen Kirche in Varginha, der Assembleia de Deus. Auf den Stufen des dreistöckigen Gebäudes wartet Prediger Eliel da Silva im Kreise seiner jugendlichen Anhänger. Der 33-Jährige schüttelt Franziskus freundschaftlich die Hand. Es ist ein Bild der Ökumene zwischen zwei rivalisierenden Glaubensrichtungen. Und es ist seltsam: Der 74-jährige Papst aus Rom und der junge Laienpriester aus Varginha sprechen auf Augenhöhe miteinander. In Varginha ist eine Hälfte der Bewohner katholisch, die andere evangelikal. Und der Zulauf zu den Evangelikalen wird immer größer. Wird sich das nach dem Papstbesuch ändern?
Im anschließenden Gespräch beschreibt da Silva sein Erfolgsrezept: „Wir sind direkter, glauben, dass der einzige Weg zu Gott über eine Beziehung zu Jesus führt. Man braucht dazu eigentlich keine Kirche, keine Mittler. Weder Heilige noch Päpste.“ Aber man habe sich für die katholischen Brüder und Schwestern riesig über den Besuch ihres Oberhaupts gefreut.
Schließlich betritt Franziskus den matschigen Fußballplatz von Varginha, wo 5000 Menschen unter Regenschirmen auf ihn warten. Von einer Bühne herab spricht er über die mangelnde Solidarität der Reichen mit den Armen. Als er ruft, dass die Befriedung der Favelas nicht dauerhaft sein könne, wenn die Gesellschaft einen Teil von sich am Rande zurücklasse, gibt es großen Jubel: „Ich appelliere an alle, die mehr besitzen“, sagt der Papst, „niemand darf gleichgültig vor der Ungleichheit sein, die immer noch auf der Welt existiert.“
Als der kleine silberfarbene Fiat des Papstes, der schon so etwas wie das Markenzeichen des neuen Pontifex geworden ist, kurz darauf Varginha verlässt, sagt Rayana: „Die Reichen wollen nichts von uns wissen, sie ignorieren und verachten uns. Ich hoffe, das ändert sich jetzt.“
Everaldo Oliveira steht unterdessen erleichtert vor der kleinen katholischen Kirche. „Der Papst hat den Altar gesegnet“, sagt er. „Ich glaube, es ist der Beginn einer neuen Ära für unsere Gemeinde. Für Varginha.“