Leonardo Boff, 74, ist einer der Begründer der Befreiungstheologie. Sie entstand ab den 1960er Jahren in Lateinamerika und stellte die Armen in den Mittelpunkt ihrer Lehre, nahm dabei auch Anleihen beim Marxismus. Als Sohn italienischer Einwanderer trat Boff mit 21 Jahren dem Franziskanerorden bei. Er studierte Philosophie und Theologie und setzte nach der Priesterweihe von 1965 bis 1970 seine Studien bei Karl Rahner in München fort. Nach mehreren Schriften über kirchliche Missstände erteilte der Vatikan Boff 1985 Rede- und Lehrverbot. Dennoch erneuerte er seine Kritik und wurde deshalb von Kardinal Ratzinger 1991 mit einer Disziplinarstrafe belegt. 1992 trat Boff aus dem Franziskanerorden aus und begann, die Befreiungstheologie auf ökologische Fragen auszudehnen. Heute lebt er in einem Bergwald bei Petrópolis mit seiner Frau, der Menschenrechtlerin Marcia Maria Monteiro, und ihren sechs Kindern aus erster Ehe zusammen.
Herr Boff, seit Montag ist Papst Franziskus zum katholischen Weltjugendtag in Rio de Janeiro. Er hat geäußert, dass er Sie gerne treffen würde.
Ja, allerdings erst, nachdem er die Reform der Kurie abgeschlossen hat. In Rio hat der Papst ausdrücklich darum gebeten, ein Buch von mir zu erhalten. Es ist gerade erschienen und heißt: „Franziskus von Assisi und Franziskus von Rom: ein neuer Kirchenfrühling?“ Der Erzbischof von Rio hat es ihm überreicht.
Der Titel drückt es schon aus: Sie setzen große Hoffnungen in Franziskus. Was würden Sie ihm sagen, wenn Sie ihn träfen?
Ich würde ihn darum bitten, weiterhin die Armen ins Zentrum seines Pontifikats zu stellen – und zwischen diese Armen den Planeten Erde, der auf unvorstellbare Weise ausgebeutet wird. Ich würde dem Papst wünschen, dass er sich weiterhin vom Heiligen Franziskus leiten lässt. Der Name steht für eine andere Kirche – eine einfache und arme Kirche, offen für alle und eine große Fürsprecherin der Natur.
Wie bewerten Sie unter diesen Gesichtspunkten Franziskus’ bisheriges Wirken?
Der Papst hatte noch nicht genug Zeit, um alle seine Ideen zu verwirklichen. Aber er hat bereits jetzt entscheidende Impulse gesetzt. So hat er seine Arbeit nicht mit der Reform der römischen Kurie begonnen, sondern mit der Erneuerung des Pontifikats. Er will zeigen, dass der Papst selbst mit gutem Beispiel vorangehen muss. Er ist bescheiden, direkt, nah bei den Menschen, und frei von den Symbolen der Macht. Seine größte Herausforderung ist es, die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche nach all den Skandalen wiederherzustellen.
Der Weltjugendtag wirkt dennoch auf viele wie ein Spektakel rund um den Popstar Papst?
Aber dieser Papst ist politischer als seine Vorgänger. Er tritt nicht als ekklesiastische Autorität oder Lehrmeister auf, sondern als Hirte. In Rio setzt er entscheidende Zeichen, besucht etwa eine Favela oder weiht eine Klinik für Drogenabhängige ein. Er lässt sich in einem kleinen Pkw fahren und hat es auch abgelehnt, in einer Suite unterzukommen, wählte stattdessen ein einfaches Zimmer. In Rom lebt er in einem kleinen Apartment, fährt Bahn und Bus. Das ist kein Populismus, sondern tief empfundene Liebe zu den Armen und ein neues Verständnis von der Rolle des Papstes. Ich glaube, dass Franziskus den Kräften in Lateinamerika Rückenwind verleihen wird, die für die soziale Gerechtigkeit kämpfen.
Sie fordern eine Kirche, die sich stärker in die Politik einmischt. Ist das die Aufgabe der Kirche?
Es gibt keinen anderen Kontinent, auf dem der Wohlstand so ungerecht vergeben ist wie Lateinamerika. In Brasilien leben fast 200 Millionen Menschen, aber nur 5000 Familien besitzen 43 Prozent des Reichtums. Diese Ungleichverteilung schwächt die Demokratie, welche ein Mindestmaß an Egalität und Transparenz benötigt. Lateinamerikas Gläubige erwarten, dass die katholische Kirche in dieser Situation ihre prophetische Rolle wiederfindet. Sie muss sich auf die Seite der Armen, der Indianer, der Schwarzen, der Kinder, der Frauen und der Landlosen stellen. Unter den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. wurde diese Aufgabe vernachlässigt und Kirchenmänner, die sich ihr widmeten, wurden wie ich bekämpft. Beide Päpste beriefen konservative Bischöfe, die dem Dialog mit der Gesellschaft aus dem Weg gingen. Die Gläubigen Lateinamerikas erwarten, dass die Kirche sich wieder öffnet und zurück zu der Großzügigkeit und Gerechtigkeit von Jesus findet.
Wie erklären sie das rasante Anwachsen der evangelikalen Kirchen in Brasilien und Lateinamerika?
Diese Kirchen entstehen aus der institutionellen Leere der katholischen Kirche. Rund 65 Prozent der Brasilianer bekennen sich zum Katholizismus. Um sie zu betreuen, bräuchte man Hunderttausend Priester. Es gibt aber nur knapp 19000, von denen 7000 Ausländer sind. Zwar sind auch viele katholische Basisgemeinden entstanden, sie reichen aber nicht aus. Die katholische Kirche erlebt einen institutionellen Zusammenbruch, insbesondere an den Peripherien – dort wo die Masse der armen und einfachen Menschen lebt. Die Brasilianer sind sehr religiös, und wenn eine christliche Kirche zu ihnen kommt, dann schließen sie sich ihr an. Die Menschen orientieren sich weniger nach Doktrinen, sondern sehnen sich nach Aufnahme und Gemeinschaft. Ich sehe die Vielfalt der Kirchen deswegen nicht negativ. Sie repräsentiert den spirituellen Reichtum Brasiliens. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, die Schönheit von Jesus’ Lehre und Praxis in ihrer Ganzheit darzustellen.
Was bedeutet es für Sie, dass der Papst ein Lateinamerikaner ist?
Er stammt nicht aus der alten, europäischen Christenheit, sondern aus dem großen Süden. In Europa leben nur 24 Prozent aller Katholiken, in Lateinamerika aber 41 Prozent. Unsere Kirchen sind nicht länger nur Spiegel der europäischen Kirchen – sie sind selbst Quellen des Glaubens, mit eigener Tradition, Theologie und Seelsorge. Hier haben sich Bischöfe dazu entschieden, soziale Gerechtigkeit zu predigen und die Menschenrechte aus Sicht der Armen zu interpretieren. Das bedeutet eine Hierarchie: Zuerst kommt das Recht auf ein Leben in Gesundheit, mit Bildung und Arbeit. Dann erst kommen alle weiteren Rechte. Franziskus steht in dieser Tradition.
Was können die Gläubigen in Europa von den Lateinamerikanern lernen?
Ich glaube, dass die Europäer den gemeinschaftsstiftenden Sinn des Glaubens verloren haben. Ebenso die Fähigkeit, religiöse Symbole mit Leben zu erfüllen. Der Synkretismus zwischen Religion und Volkskultur fehlt völlig. Dadurch ist der Glaube erstarrt. In Lateinamerika ist er dagegen fröhlicher, festlicher. Er imprägniert die Menschen geradezu gegen ihren beschwerlichen Alltag. Besonders die Brasilianer sind ein tief religiöses, ich würde fast sagen mystisches Volk. Sie spüren Gott in ihrem täglichen Leben. Der Europäer ist da kühler, rationaler.
Haben Sie ein Signal der Versöhnung von Joseph Ratzinger erhalten, nachdem er als Papst zurückgetreten ist?
Nein, und ich erwarte das auch nicht. Als ich vorgeladen und mit Lehrverbot belegt wurde, tat Ratzinger, was er für richtig hielt. Und ich habe an meiner Theologie der Befreiung festgehalten, weil ich es für unverantwortlich hielt, dass die Kirche sich nicht zu Ungerechtigkeit und Unterdrückung äußern sollte. Ich habe Ratzinger nichts mehr zu sagen, respektiere aber seine mutige Entscheidung zum Rücktritt vom Papstamt. Er war sich seiner physischen, psychischen und spirituellen Limits bewusst. Ich hoffe, dass er voller Vertrauen zu seinem Treffen mit Gott geht.