Was haben das Internet und die Proteste in Brasilien gemein? Kleine Dinge werden dort manchmal ganz groß.
20 Centavos, umgerechnet sieben Cent, sollten die Bustickets teurer werden. Aber in São Paulo wehrten sie sich und forderten Gratistransport. Als die Polizei dazwischen schlug, spulten die Zeitungen und das Fernsehen ihr gewohntes Programm ab: Randalierer und Chaoten! Doch auf der Facebook-Seite der Gruppe „Passe Livre“ (Freifahrtschein) war ganz anderes zu sehen: ein Polizist, der das Fenster seines Einsatzwagens zerschlägt; ein anderer, der ein Mädchen in Rock und Sandalen verprügelt; einer der aus drei Metern Gummigeschosse auf Demonstranten abfeuert. Wer es sah, musste wütend werden.
Dann erschien der gegelte Moderator einer Morgensendung von TV Globo, dem größten Medienkonzern Lateinamerikas, berüchtigt für seine Kollaboration mit der Militärdiktatur. Er fragte belustigt, was das für Leute seien, die keine 20 Centavos hätten, aber 3000 Reais, um ihre Kaution zu zahlen? Die Fronten waren abgesteckt, auch in den Medien.
Eine Woche später der landesweite Demo-Aufruf, gepostet und geteilt auf den unterschiedlichsten Facebook-Seiten. Das Netzwerk hat in Brasilien zurzeit 75 Millionen Mitglieder. Dabei hat nur knapp die Hälfte der 200 Millionen Brasilianer überhaupt Zugang zum Internet. An jenem Montag marschierten dann Hunderttausende junge Menschen durch Brasiliens Städte. In Rio sangen sie: „Globo, nimm’s in den Arsch!“ Es war eine riesige, fröhlich Demo. Einer hatte ein Schild dabei: „Raus aus Facebook, rein in die Demo“. Doch als viele hinterher in der Kneipe saßen, trauten sie ihren Augen nicht. Es lief Globo TV, und man sah nur eins: die aus einem Hubschrauber gefilmten Bilder von Randalen am Rande. Auf Demos gehen Globo-Reporter nur ungern – vielleicht zurecht. Nun füllten sich Facebook und Twitter mit Nachrichten, Fotos und Filmen vom tatsächlichen Protest. Das Abbild der Ereignisse formte sich im Netz. Eine Collage tauchte auf, in der der blaue Himmelskreis in der brasilianischen Fahne vom Globo-Logo befreit wird: „Under Construction!“
Auch die ausländischen Medien wurden aufmerksam und suchten nach einer Erklärung für die politische Massenbewegung in einem Land, in dem die Menschen jahrzehntelang nur für Karneval und Fußball auf die Straße gegangen waren. Man fand Carla Dauden. Die blonde junge Frau erklärt auf Youtube in perfektem Englisch was in Brasilien alles falsch läuft und warum sie nicht zur Fußball-WM geht. Ihr Film ist professionell und engagiert gemacht, Dauden lebt als Filmemacherin in Los Angeles, wohin sie mit 18 Jahren aus Brasilien gezogen ist. Trotz dieser geografischen Unstimmigkeit hatten die ausländischen Medien die „Stimme des Protests“ gefunden.
In Brasilien spielt Dauden jedoch keine große Rolle – trotz 3,3 Millionen weltweiter Klicks. Aber was bedeuten die? Das düstere Video des Vaters einer behinderten Tochter, der den Ex-Fußballer Ronaldo zur Hölle wünscht, weil dieser gesagt hat, dass man für eine Fußball-WM keine Krankenhäuser brauche, hat in Brasilien 1,3 Millionen Klicks erreicht. Die fast täglichen Botschaften der Gruppe Anonymous Brasil, deren Facebook-Seite zum Infokanal der Proteste geworden ist, werden 1,5 bis 2,6 Millionen Mal angeschaut. Es ist die Normalität einer Bewegung, die sich im Netz formiert und informiert, weil sie den kommerziellen Medien nicht mehr glaubt. Einen alten Spruch liest man jetzt wieder häufiger: „The Revolution will not be televised!“ Zumindest nicht in Brasilien.