Der Krawall begann pünktlich mit dem Anpfiff.
In Rio de Janeiros Maracanã-Stadion trat Brasilien gegen Spanien zum Finale im Confederations Cup an, draußen hatte der Staat 11000 Sicherheitskräfte aufgeboten, um die Arena abzuriegeln, darunter Einheiten der brasilianischen Nationalgarde. Offenbar wollte man unbedingt verhindern, dass Demonstranten zum Spielort gelangen. Es wäre ein weiterer Sieg der Protestbewegung gewesen, die seit Mitte Juni für bessere Gesundheit und Bildung auf die Straße geht und die exorbitanten Kosten für die Fußball-WM kritisiert. Die Polizei kann allerdings nicht verhindern, dass es ein Trojanisches Pferd im Stadion gibt.
Am frühen Abend waren mehrere Tausend Demonstranten in Richtung Spielort losgezogen. Fast täglich finden in Rio zurzeit solche Märsche statt, und es hat sich eine gewisse Orientierungslosigkeit breit gemacht. Sie hat auch damit zu tun, dass Brasiliens aufgeschreckte Regierung einige der Hauptforderungen der Proteste in Windeseile umgesetzt hat.
Zu der Demo am Sonntagabend hat das Volkskomitee WM unter dem Motto aufgerufen: „Das Maracanã gehört uns“. Es verlangt die sofortige Annullierung der Stadion-Privatisierung. Gustavo Mehl, Sprecher des Komitees, erklärt: „Der brasilianische Staat hat für den WM-gerechten Umbau der Arena umgerechnet 460 Millionen Euro bezahlt, sie aber dann an ein Konsortium um Brasiliens Baukonzern Odebrecht vergeben, der für ihre kommerzielle Ausbeutung lediglich zwei Millionen Euro Jahrespacht zahlen soll.“ Unwohlsein über diesen Deal herrscht nicht nur auf der Straße. Auch die Fans in der Bahn zum Stadion sagen abfällig: „Das Maracanã gehört jetzt Eike!“ Eike Batista ist Brasiliens reichster Mann und an dem Betreiber-Konsortium beteiligt.
Wie weit der Protest in die Gesellschaft hineinreicht, macht auch Sérgio Pimentel deutlich. Der 66-jährige Rentner war früher Filialleiter eine großen Supermarktkette, heute zieht er mit einem Schild durch die Straße: „Für eine neue Demokratie!“ Das Endspiel im Stadion interessiert ihn wenig. Er sagt, dass Brasilien sogar gegen Burundi 0-3 verlieren würde. Denn selbst dort hätten sie eine niedrigere Kindersterblichkeit. Das stimmt zwar nicht, aber Pimentels Vergleich drückt das Gefühl vieler Brasilianer aus, dass ihr Land einzig beim Fußball international mithalten könne.
Als der Protestmarsch eine Zugangsstraße zum Stadion erreicht, ist diese von sogenannten Schocktruppen abgeriegelt. Der 21-jährige Gabriel Xukurú breitet ein Transparent aus: „Das Maracanã-Dorf leistet Widerstand.“ Xukurú trägt ein hölzernes Piercing in der Unterlippe und einen Federschmuck. Er ist einer der Ureinwohner, die aus dem Museu do Índio vertrieben worden waren, einem historischen Bau auf dem Stadiongelände, der einem Parkplatz weichen sollte. Nun fühlt sich Xukurú durch Brasiliens Frühling ermutigt, die Rückkehr in das denkmalgeschützte Haus zu fordern.
Einige Meter neben Xukurú steht ein junger Mann mit Gasmaske. Er lebt in der Favela Providência, in der Rios Stadtverwaltung verschiedene Bauprojekte plant. Für eins von ihnen soll der 23-Jährige sein Haus räumen, er ist von der Zwangsumsiedlung bedroht. „Es wird gleich knallen“, sagt er. „Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit.“
Kurz darauf fliegt ein Molotov-Cocktail auf die Polizei, die sofort mit Tränengas und Lärmbomben zurückschlägt. Der Einsatz ist massiv, undifferenziert und wirkt wie schon auf vorherigen Demos: eskalierend. Bis zum späten Abend wird in Rio gekämpft, Schwaden des Tränengas erreichen auch das Stadion und einige brasilianische Spieler beklagen sich über brennende Augen. Schon vor dem Anpfiff war Unvorhergesehenes passiert. Ein Paar, das an der Eröffnungschoreografie teilahm, breitete ein Transparent gegen die Stadionprivatisierung aus. Die Aktion dauerte nur wenige Sekunden, aber der Protest hat den Rasen erreicht.