Zuerst erscheint der Tross aus Diplomaten, Journalisten und Sicherheitsleuten.
Rund 120 Damen und Herren in dunklen Anzügen und mit umgehängten Ausweiskärtchen schreiten eine holprige Straße hinauf, neugierig beäugt von Menschen in kurzen Hosen, bunten T-Shirts und Flipflops. Es ist das Zusammentreffen zweier Welten. Einer aus dem Trupp scherzt: „Hier kommen die Aliens.“ Es wirkt tatsächlich so. Ein Mann, der am Straßenrand Fleischspieße wendet, fragt: „Ihr seid wegen dieses Typen aus Holland da, oder?“
Besuch von Joachim Gauck in der Favela Santa Marta in Rio de Janeiro. Der Bundespräsident ist seit drei Tagen in Brasilien und trifft durchgängig den Ton. In Sao Paulo eröffnete er das erste deutsche „Brasilienjahr“ und nahm seine Amtskollegin Dilma Rousseff für sich ein, obwohl diese auf Deutschland extrem schlecht zu sprechen ist, seit Angela Merkel ihr wegen Kritik an der deutschen Finanzpolitik die kalte Schulter zeigt. In Rio hat Gauck sich dann am Mittag mit den Mitgliedern der Wahrheitskommission getroffen, die die Verbrechen während der brasilianischen Militärdiktatur aufarbeitet. Sie waren beeindruckt von der Erfahrung des ehemaligen Stasiakten-Beauftragten und baten ihn prompt um Mithilfe. Der Präsident ist locker, am Abend zuvor hat er mit einem Dutzend Journalisten im Copacabana-Palace zwei Caipirinha getrunken und erzählt, wie das so war mit Dilma.
Nun trifft der Erfolgspräsident aus Deutschland auf die Vorzeigefavela Brasiliens. Santa Marta wurde 2008 von der gerade gegründeten Friedenspolizei UPP besetzt, die seitdem dafür sorgt, dass hier keine Schießereien mehr zwischen Drogengangs und der Militärpolizei stattfinden. Außerdem hat man zahlreichen der kleinen, einst unverputzten Häusern einen bunten Anstrich verpasst, was sehr pittoresk wirkt. Sie wachsen ineinander verschachtelt und spektakulär einen steilen Hang empor. In der Favela wohnen heute Lehrerinnen der deutschen Schule sowie deutsche Aussteiger und Urlauber. Zu ihrem höchsten Punkt hat die Stadt eine Zahnradbahn bauen lassen.
Weil die Favela also als sicher, übersichtlich und nicht ganz so arm gilt, ist Joachim Gauck auch nicht der erste Würdenträger, der sie besichtigt. Sein schwarzer Audi mit dem Bundesadler schiebt sich langsam den holpirgen Weg hinauf und macht vor der kleinen Halle der Sambaschule Halt, wo die Kameramänner schon einen Pulk bilden. Der Präsident steigt aus und bahnt sich zielstrebig den Weg zu einem verdutzten Favelabewohner. Kräftiges Händeschütteln, wobei nicht richtig auszumachen ist, was die beiden miteinander zu besprechen haben. Ja, ob sie überhaupt eine gemeinsame Sprache finden. Gauck wird gleich noch ein Kind auf den Arm nehmen und mit der Besitzerin der Bar da Dona Rita plauschen. Er wirkt jetzt wie einer der hiesigen Politiker, die sich nur zu Wahlen in den Favelas blicken lassen. Auf einem kleinen Platz, um den herum alle Häuser frisch gestrichen wurden, lässt Gauck sich dann von Rios Sicherheitsminister erklären, wie der Staat die Favelas erobert. Rundherum wachen schwarzuniformierte Militärpolizisten.
Ein kleines Jugendorchester gibt es in der Favela Santa Marta, das mit einer Instrumentenspende des deutschen Konsulats gegründet wurde. Für Gauck spielt es ein zartes Medley aus Beethoven und Nationalhymne. Der Bundespräsident sitzt lange lächelnd vor den Musikern und scheint froh zu sein, einmal nichts sagen zu müssen. Anschließend überreicht er 1000 Euro: „Ich habe hier ein Stück Papier, das Geld Wert ist.“ Auch den Nikolaus kann er.
Vor der Sambaschule reckt die deutsche Presse Gauck schon die Mikrofone hin, während die brasilianischen Kollegen sich eher für den Sicherheitsminister interessieren. Gauck sagt, dass die Favela früher ein „Ort des Schreckens“ gewesen sei, was nun wirklich eine Übertreibung ist. Als der Präsidententross nach anderthalbs Stunden wieder verschwunden ist, sitzen vor der Bar da Dona Rita ein paar schwarze Frauen beim Bier. Sie sagen: „Ja, wir kennen das schon. Mal sehen, wer morgen kommt.“