Aus Rio de Janeiro geht es drei Stunden Richtung Süden, die Straße schlängelt sich durch die Berge und immer parallel zur Atlantikküste. Hinter einem bewaldeten Pass öffnet sich plötzlich der Blick aufs tiefblaue Meer, fast übersieht man die beiden in der Sonne leuchtenden Atomreaktoren am Wasser.
Der erste hat die Form eines Zylinders, der zweite die einer Kuppel. Nicht weit entfernt ragen Kräne über einem kreisrunden und einem kantigen Rohbau auf, Hunderte von Männern in blauen Overalls und mit grünen Helmen gießen Beton.
Früher lebten in dieser Gegend die Guaraní-Indianer. Sie nannten die kleine Bucht „Itaorna“. Es bedeutet: verdorbener Stein. Die Indianer wussten, dass der Untergrund in der Gegend instabil ist und es zu Erdrutschen kommen kann. Das schreckte Brasiliens Militärregierung in den siebziger Jahren nicht davon ab, hier zwei Atomkraftwerke zu errichten: Angra I wurde 1972 vom US-Konzern Westinghouse begonnen und ging nach rechtlichen Auseinandersetzung 1985 mit 640 Megawatt ans Netz. Mit dem Bau von Angra II beauftragten die Brasilianer 1975 Siemens-KWU im Rahmen des Deutsch-Brasilianischen Atomabkommens (das damals insgesamt acht Reaktorneubauten vorsah). Die Anlage lieferte wegen Finanzierungsproblemen erst ab 2001 Energie: 1350 Megawatt. Nun wird auf dem Gelände seit 2010 das dritte Atomkraftwerk Brasiliens errichtet: Angra III mit einer anvisierten Leistung von 1405 Megawatt.
In Deutschland mag der Bau eines Atomkraftwerks anachronistisch erscheinen, in Brasilien nicht. Das Argument der Regierung in Brasilia lautet: Wir brauchen Strom, um den rasant wachsenden Energiebedarf unserer aufstrebenden Nation zu decken. Manche Experten sagen eine Verdreifachung des Verbrauchs bis zum Jahr 2050 voraus. Die wachsende Mittelklasse, die sich immer mehr Elektrogeräte zulegt, ist dafür der geringere Grund, sie verbraucht nur rund ein Drittel des Stroms. Es geht vor allem um Brasiliens Schwerindustrie: Aluminium-, Stahl-, Zement- und Eisenwerke. Zwar ist Brasilien, wenn es um die Energieerzeugung geht, eine Hydronation: 90 Prozent des Stroms stammen aus den vielen über das Land verteilten Wasserkraftwerken. Doch immer öfter ausbleibende Regenfälle haben bereits zu Engpässen geführt. Außerdem erschöpft sich das Potential für weitere Dammbauten – insbesondere da Brasilien mit dem Belo-Monte-Staudamm gerade das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt ins südliche Amazonasbecken setzt: ein Megaprojekt, höchst umstritten und zerstörerisch.
Nun gilt die Atomenergie als ein Ausweg und wird von Brasiliens staatlichem Stromkonzern Eletrobras mit seiner Sparte Eletronuclear als billige und saubere Alternative zu Kohle und Öl gepriesen. Es ist dieselbe Argumentation der Atomlobby auf der ganzen Welt. Zurzeit entstehen rund um den Globus 65 neue Atomkraftwerke. „Allein 31 davon in China“, sagt Luiz Roberto Cordilha und zieht die Augenbrauen hoch. „Aber darüber beklagt sich niemand.“
Cordilha gehört zu den 500 Ingenieuren, die im Atomkomplex Angra beschäftigt sind. Der 62-Jährige arbeitet seit 1977 hier, er ist ein Veteran der brasilianischen Nuklearindustrie. Und er hat nicht die geringsten Zweifel an der Sicherheit der brasilianischen Atommeiler. Er führt zu einer Aussichtsplattform über der Baustelle von Angra III. Die Anlage wird vom Areva-Konzern gebaut, nachdem Siemens 2011 seine Anteile am Jointventure mit den Franzosen verkauft hat. Grund war die Entscheidung der Bundesregierung zum Atomausstieg.
40 Prozent der Reaktorhülle und der nicht sensiblen Bereiche von Angra III sind bereits vollendet. Nun hofft Cordilha, dass das Kraftwerk, dessen Bau umgerechnet rund 3,76 Milliarden Euro kosten soll, bis 2016 fertig wird. „Die Chinesen machen so was in vier Jahren“, sagt er neidisch.
Tatsächlich begann der Bau von Angra III bereits 1984, wurde aber 1986 wegen Geldmangels ausgesetzt. Nun ist die Finanzierung gesichert. Diese wird zu zwei Dritteln von der Nationalen Brasilianischen Entwicklungsbank und zu einem Drittel von der staatlichen Caixa Economica Federal besorgt. „Wir brauchen euer Geld nicht mehr“, spricht Cordilha die jahrelang umstrittene Hermes-Bürgschaft der Bundesregierung zur Absicherung des Baus an. Sie ist mittlerweile vom Tisch. Die Brasilianer sehen Angra III daher auch als Symbol für Brasiliens neue wirtschaftliche Unabhängigkeit.
An den Bauplänen für das Atomkraftwerk hat sich allerdings in den letzten 25 Jahren nicht viel verändert: Angra III ist baugleich mit Angra II und das älteste Projekt in Arevas Produktpalette. Viele der Komponenten für den Druckwasserreaktor lagern seit den Achtzigern in einer riesigen Halle auf dem Kraftwerksgelände, „insgesamt 12.000 Tonnen“, sagt Cordilha. Beim Gang durch den Bau entdeckt man Metallrohre und Ventile, deren Gewinde leicht korrodiert sind. Einige Arbeiter öffnen die Kunststoffverpackung einer Maschine, die auf einer Holzpalette mitten in der Halle steht. Es kommt eine Wasserpumpe aus der Uraca-Fabrik im schwäbischen Bad Urach zum Vorschein, Baujahr 1984. „Das Alter sei bei diesen Geräten egal“, meint Cordilha.
Der Atomingenieur führt in das neben der Halle gelegene Atomkraftwerk Angra II. Wir betreten einen Raum, durch dessen Fenster man ins Kontrollzentrum blickt. Eine Handvoll Techniker sitzt dort vor Bildschirmen und Anzeigen und macht sich Notizen. Die Anlage laufe gerade unter Vollast, erklärt Cordilha stolz. Aber klar, Fukushima habe auch in Angra etwas ausgelöst, spricht er die augenfällige Parallele auf Nachfrage an. Wie der japanische Katastrophenreaktor steht Brasiliens Atomkomplex direkt an der Küste eines Ozeans, wenige Meter über dem Wasserspiegel. Er befindet sich zudem in unmittelbarer Nachbarschaft der 170000 Einwohner zählenden Stadt Angra dos Reis und im Dreieck der Millionenstädte São Paulo, Rio de Janeiro und Belo Horizonte, alle nur wenige Hundert Kilometer entfernt. „Wir haben uns nach Fukushima zusammengesetzt und jedes Detail überprüft“, sagt Cordilha. „So etwas kann bei uns nicht passieren. Unsere Notstromaggregate liegen nicht unter dem Wasserspiegel. Die Japaner waren nicht auf das Zusammentreffen von Erdbeben und Tsunami vorbereitet.“ Die Sorglosigkeit ist nicht zur Schau gestellt. Cordilha wohnt mit seiner Familie in der Nachbarbucht. Eletrobras hat dort für seine 1500 Festangestellten eine beschauliche Bungalowsiedlung am Strand errichtet. „Dies ist ein herrlicher Ort, um zu leben“, sagt der Ingenieur.
Nicht alle teilen diese Meinung. Die Wissenschaftler Célio Bermann und Francisco Correa kommen in einem Gutachten für die Umweltschutzorganisation Greenpeace kommen sie zu dem Ergebnis, dass der Bau von Angra III unverantwortlich ist. Und die beiden kennen sich aus: Berman ist Professor am Institut für Elektrotechnik und Energie der Universität São Paulo. Francisco Correa hat für die brasilianische Umweltbehörde IBAMA gearbeitet und war auch am Genehmigungsverfahren für Angra III beteiligt. Sie sagen, dass das Design des Reaktors veraltet sei und in Sicherheitsaspekten weit hinter heutigen Standards zurückbleibe. So schütze die nur 60 Zentimeter dicke Kuppel nicht hinreichend gegen Flugzeugabstürze. Ebenso wenig verfüge die Anlage über vier redundante aktive Sicherheitssysteme, wie es mittlerweile internationale „best practice“ sei. Teilweise genüge Angra III damit nicht einmal den Sicherheitsanforderungen, die nach dem Unfall in Three Mile Island 1979 aufgestellt worden waren.
Die größte Gefahr gehe allerdings von Erdrutschen aus, die sich in der regenreichen Region von den steilen Hängen rund um den Komplex lösen könnten. Auch Wirbelstürmen mit Geschwindigkeiten von mehr als 300 Kilometern pro Stunde wie sie mittlerweile vor Brasiliens südlichen Küsten vorkommen, hielten die Atomkraftwerke nicht stand. „Man hat bei Angra III nichts aus Fukushima gelernt“, konstatiert Atomingenieur Correa. „Es gibt so viele Risiken, die es unmöglich machen, einen Unfall von der Tragweite Fukushimas auszuschließen“.
Frappierend ist, dass all diese Mängel für die Nationale Kommission für Atomenergie (CNEN) keine Rolle zu spielen scheinen. Aus einem einfache Grund: In ihren Zuständigkeitsbereich fällt nicht nur die Kontrolle der Atomkraft, sondern auch ihre Produktion. Diese Interessenvermengung verletzt internationale Konventionen, doch Brasiliens Pläne zur Schaffung einer unabhängigen Aufsichtsbehörde liegen seit 2009 auf Eis. Nun scheint die Katastrophe von Fukushima zwar auch in Brasilien zu einem vorläufigen Umdenken geführt zu haben: Ursprünglich wollte das Land bis 2030 noch vier weitere Atomkraftwerke bauen, jeweils zwei im Südosten und Nordosten des Lande. Diese tauchen im Nationalen Energieplan (PNE) der Regierung bis 2022 nicht mehr auf. Jedoch wird für dieses Jahr der PNE bis 2050 erwartet. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Atomenergie darin wieder eine größere Rolle spielen wird. Darauf deuten Überlegungen innerhalb der brasilianischen Regierung hin, ob der konventionelle Teil des Betriebs von Atomkraftwerken – der per Verfassung ausschließlich der staatlichen Eletrobras vorbehalten ist – nicht auch Privatkonzernen geöffnet werden solle. Man befürchtet, dass es langfristig sonst immer schwieriger wird, Kredite für neue Nuklearanlagen aufzutreiben.
Mit Angra III wird die Atomkraft fünf Prozent zum brasilianischen Energiemix beitragen. „Aber 50 Prozent des Stroms für den Bundesstaat Rio de Janeiro kommen von hier“, sagt Cordilha. Er findet es falsch, dass nicht schon jetzt mehr Atomkraftwerke gebaut werden. „Wir sollten unsere Energiequellen konsequent ausnutzen.“ Tatsächlich ist Brasilien der sechstgrößte Uranproduzent der Welt und muss den Rohstoff nicht importieren. Cordilha verschweigt, dass die brasilianische Uranproduktion ein schmutziges Geschäft ist.
Cecília Mello gehört zur Articulação Antinuclear, der winzigen brasilianischen Anti-Atomkraft-Bewegung. Sie hat einen schweren Stand in einem Land, in dem Umweltschutz ein Nischenthema ist und auch die Linke den Ausbau der Atomkraft aus nationalistischen Gründen für richtig hält. Zu den Treffen der Gruppe kämen oft nicht mehr als eine Handvoll Leute. Mello sitzt an einem Wasserbecken in Rios botanischen Garten, sie trägt dunkle halblange Haar und eine Leinenhose. Hauptkritikpunkt der Professorin für Regionalplanung an der Staatlichen Universität von Rio ist die Uranförderung. Sie hat eine wissenschaftliche Kommission zur einzigen Uranmine Lateinamerikas bei der Stadt Caetité in Nordosten Brasiliens geleitet.
Dort ist es mittlerweile verboten, Leitungswasser zu trinken, da dieses verseucht ist. Die Arbeiter in der Mine klagen darüber, dass sich nicht über Risiken aufgeklärt würden, etwa erhöhte Radioaktivität. Und immer wieder kommt es zum Austritt von Uranstaub in die Umgebung, was die Bauern der Gegend ruiniert hat. Die Mine wird vom staatlichen Atomkonzern Indústrias Nucleares Brasileiras (INB) betrieben, der auch den Bürgermeister von Caetité stellt. Protest gegen die Mine werde unterdrückt, sagt Mello. Sie moniert die fehlende demokratische Transparenz, wenn es um die Nuklearbranche geht. Alle Entscheidungen werden vom nationalen Energierat getroffen, in dem acht Minister, Vertreter der Bundesstaaten sowie je ein Vertreter der Zivilgesellschaft und des akademischen Lebens sitzen.
Über eine der wichtigsten Fragen hat der Rat noch nicht einmal diskutiert: die Endlagerung des Atommülls aus Angra. 2500 Kubikmeter des hochgiftigen Abfalls lagern in mehreren Betonbunkern auf dem Gelände des Komplexes. Sie stehen etwas erhöht über dem Meer zwischen Felswänden und Wald. „Es ist nicht die Verantwortung von Eletrobras, ein Endlager zu finden“, sagt Chefingenieur Cordilha, „das muss die Politik machen“. Die brasilianische Nuklearproduktion sei außerdem noch so jung, dass sich die Frage gar nicht stelle. „Aber bis es soweit ist, wird sich schon was finden lassen.“