Rayana Caroline Barbosa druckste herum: Ob man sich nicht irgendwo in der Stadt treffen könne anstatt bei ihr zuhause. Schließlich beschrieb sie doch den Weg durch das Labyrinth ihrer Favela. „Ich wohne in einer Baracke“, schob sie hinterher. „Ich bin die Ärmste der ganzen Sambaschule.“
Rayana Barbosa lebt in der Favela do Borel, die sich einen steilen Berghang im Norden von Rio de Janeiro hinaufzieht. Man steigt Betontreppen empor, läuft durch stinkende Gässchen, in denen man die Arme nicht ausbreiten kann. Man verirrt sich, fragt sich durch. Irgendwann steht man vor der Metalltür zu einem winzigen einstöckigen Haus aus rohen Ziegeln. Es ist eingeklemmt zwischen anderen improvisierten Behausungen, herumliegendem Schutt und einem offenen Abwasserkanal. Auf der anderen Seite der Tür kläfft ein Köter. Rayana öffnet. Sie trägt abgeschnittene Jeans und Flip-Flops.
Rayanas Sambaschule „Unidos da Tijuca“ gewann 2012 den Wettbewerb der Sambavereine von Rio. Nun tritt der traditionsreiche Verein mit dem Thema „Verzaubertes Deutschland“ an. Rayana kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Sie ist eine Porta-Bandeira [kursiv], eine der drei Fahnenträgerinnen der Unidos, die jeweils einen Block mit 1350 Tänzern anführen. Rayana wird ein kostbares blaues Kostüm mit Federn, Rüschen und glitzernden Accessoires tragen. Der Dress ist handgenäht, wiegt rund 20 Kilo, und Rayana schaut darin aus wie eine Mischung aus ausgeflippter französischer Hofdame und Science-Fiction-Herrscherin. „Ich sehe mich als Blauer Engel“, sagt sie.
Rayana ist die dritte Porta-Bandeira der Unidos. Daher kann sie nicht um den Preis für die „Beste Bannerträgerin“ konkurrieren. Nur die jeweils ersten und zweiten Porta-Bandeiras jeder Schule kommen dafür in Frage. Unter den Schulen tobt daher ein harter Kampf um die besten Tänzerinnen, es geht zu wie im Profifußball, mit Ablösesummen und Gehältern. Die erste Porta-Bandeira der Unidos ist die 37-jährige Giovanna Justo. Sie stammt aus der Favela Mangueira, wohnt heute aber in der Barra da Tijuca, der wohlhabendsten Gegend von Rio. Die Samba-Schule zahlt ihr ein monatliches Auskommen.
„Ich will erste Porta-Bandeira werden“, sagt Rayana Barbosa. Sie verschlingt ein Stück Zitronenkuchen und trinkt Limonade. „Aber nicht beruflich, ich möchte Recht studieren“. Rayana besitzt einen erstaunlich trockenen Realismus. „Ich bin ein Favela-Mädchen“, sagt sie, „man kriegt im Leben nichts geschenkt“.
Kennengelernt hatte man Rayana während einer Probe ihrer Sambaschule in Rios Hafenviertel. Ein Wolkenbruch ging nieder und sie suchte durchnässt und ausgepowert Schutz in einer Toreinfahrt. Es war schon nach Mitternacht und sie meinte, dass sie jetzt noch anderthalb Stunden mit dem Bus nachhause fahren müsse, die meisten anderen hätten Autos. Es war keine Klage, nur der Hinweis darauf, dass sie ein Original ist. In Rayanas Armenviertel, der Favela do Borel, wurde die Sambaschule Unidos da Tijuca 1931 gegründet. Aber Rayana ist eine der wenigen, die noch von dort stammen. Der Präsident der Schule verlegte das Clubhaus vor einigen Jahren näher ans Zentrum, weil er angenervt war von der örtlichen Drogengang. „Wenn ein Bandit erschossen wurde, herrschte eine Woche lang Trauer. Dann durften wir nicht trainieren“, erinnert sich Rayana. Der Umzug war jedoch auch symptomatisch für die Kommerzialisierung der Szene.
Rayana tanzt seit sie sich erinnern kann: Samba, Ballett und Breakdance. „Manchmal ging ich auch zum Baile Funk“, sagt sie. Dies waren früher von Drogengangs organisierte Tanzveranstaltung mit hartem brasilianischem HipHop. Dann schloss sich Rayana der Jugendabteilung von Unidos da Tijuca an und gewann die Auszeichnung „Beste Nachwuchsfahnenträgerin“. Damit war der Weg zu den Großen geebnet. Das Talent scheint in der Familie zu liegen: Rayanas Bruder ist in einer anderen Sambaschule der Carnevalesco, der Dramaturg. Und Rayanas Vater komponierte Samba-Musik, bevor er zu einer evangelikalen Kirche ging, die den Karneval für Teufelszeug hält.
In einer Ecke von Rayanas Zimmers – zwischen dem Durchbruch zum Wohnzimmer und der Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern – lehnt die Fahne der Unidos. Rayana breitet sie auf ihrem Bett aus. In der Mitte prangt ein Pfau, Wappentier der Schule und Symbol für Schönheit und Reichtum. Rayana lebt seit ihrer Geburt in der Favela. Ihr Zimmer in dem Haus, das ihr Vater gebaut hat, misst sechs Quadratmeter und hat keine Fenster, neben ihrem Bett steht ein alter Computer, an der Decke dreht sich ein klappriger Ventilator. „Das Leben hier ist nicht das beste“, sagt Rayana, „Aber man kann überleben. Favelas existieren, damit die Armen einen Platz haben“.
Vor drei Jahren besetzte eine Einheit von Rios sogenannter Friedenspolizei Rayanas Viertel um sie der Herrschaft der Drogengang Rotes Kommando zu entreißen. Fünf Polizisten langweilen sich heute in schusssicheren Westen auf dem ehemaligen Drogenverkaufsplatz des Armenviertels, in dem 20000 Menschen leben sollen. „Der Handel geht trotzdem weiter“, sagt Rayana beim Rundgang. „Aber es wird nicht mehr geschossen. Das ist Fortschritt für uns.“
Am Sonntag, irgendwann ab 23 Uhr, wird Rayana unter ohrenbetäubendem Jubel mit ihrer Fahne ins Sambodrom einlaufen. Genau 80 Minuten wird sie tanzen und mehrere Liter Wasser schwitzen. Anschließend entscheidet die Führung der Sambaschule, ob Rayana dritte Porta-Bandeira bleibt, aufsteigt oder rausfliegt. Auch ihr Vater werde dann seiner Kirche trotzend vor dem Fernseher sitzen und ihr die Daumen drücken. „Heimlich“, sagt Rayana.