Die Szene war von offenbarender Absurdität. Zwei Dutzend brasilianische Militärpolizisten mit schusssicheren Westen, Schrotflinten und Schlagstöcken stehen drohend vor halbnackten Indianern mit buntem Federschmuck. Rundherum Journalisten, Aktivisten und Lokalpolitiker, die erregt Interviews geben.
Irgendwann tritt der Anführer der Indianer vor die Presse. Carlos Tucano, ein gedrungener Mann Anfang 50, scheint zu weinen, aber es ist nur der Nieselregen, der ihm übers Gesicht läuft und seine rote Kriegsbemalung verwischt. Tucanos Botschaft, in gebrochenem Portugiesisch vorgetragen, ist kämpferisch aber nicht aggressiv: „Die Polizisten sind bis an die Zähne bewaffnet, aber wir werden uns nicht auf eine Konfrontation einlassen. Wir bringen alles in die Diskussion ein, was wir haben: unsere Leben.“
Das Grundstück, um das es geht, gehört dem Bundesstaat Rio de Janeiro. Dessen Gouverneur Sérgio Cabral ordnete vergangenes Jahr den Abriss des Gebäudes an. Die Entscheidung war mit seinem Parteifreund Eduardo Paes abgestimmt, dem Bürgermeister von Rio. Sie argumentierten, dass der Zugang zum Stadion vereinfacht werden solle. Nun begann eine öffentlich Diskussion, die im Empfinden vieler eigentlich lange vor der Abrissentscheidung geführt hätte werden müssen. Die Gegner argumentierten, dass das Maracanã-Stadion schon 1950, kurz nach seiner Fertigstellung, 200.000 Menschen empfangen hatte, ohne dass das Museu do Indio gestört hätte. Und auch in den folgenden 62 Jahren beschwerte sich keiner der Millionen von Fans, die in das Stadion strömten. Cabral schob nun die Fifa vor: Sie hätte den Abriss verlangt. Doch die Fifa dementierte. Daraufhin sagte Cabral: „Wir haben das Grundstück gekauft. Die Indianer sind das Problem der Funai. Das Museum hat keinen historischen Wert.“ Letzteres kann man nur behaupten, wenn man Brasilien ohne seine Ureinwohner definiert.
Die Funai ist die staatliche brasilianische Indianerbehörde Fundação Nacional do Índio. Sie war bis 1978 im Indianermuseum untergebracht, in dem bereits ihre Vorgängerorganisation residierte. Der Indianerschutzdienst war 1910 von dem legendären Abenteuer Cândido Rondon gegründet worden. 1961 wurde dann unter dem Dach des Museums die Einrichtung des ersten brasilianischen Nationalparks beschlossen: Der Xingu-Park sicherte verschiedenen indigenen Völkern das überleben. Er geht zurück auf den Einsatz der Brüder Villas Bôas, deren Geschichte in dem Film „Xingu“ porträtiert wird. Ende der siebziger Jahre zog die Funai dann nach Botafogo, einen anderen Stadtteil von Rio.
Nach Cabrals geschichtsvergessener Bemerkung solidarisierten sich linke Aktivisten, Historiker und Denkmalschützer mit den etwa 60 Indianern und ihrer Aldeia Maracanã – dem Maracanã-Dorf. Sie forderten das Ende des Ausverkaufs von Rio. Es entstand ein Besetzercamp. Wenige Tage nach der Polizeibelagerung stehen im Innern des verfallenen Gebäudes Zelte auf dem verkratzten Kachelboden. Junge Leute sitzen an Computern, um per Facebook zu informieren. In einem riesigen Raum porträtiert ein Fotograf die Indianer mit Pfeil und Bogen. Er arbeite an einem Buch über die Vertriebenen von Rio, sagt er. An den grünen Wänden kleben historische Fotos und prangen Durchhalteparolen: „Man bringt ein Volk um, indem man ihm seine Kultur raubt.“
Auf einem Treppenaufgang sitzt Garapirá Pataxó mit prächtigem Federschmuck. Der Kunsthandwerker stammt aus Bahia, im Gesicht trägt er eine wilde Bemalung. In der Rechten hält der 37-Jährige ein Smartphone, in der Linken den Schlüssel seines Renault. Er sagt: „Wohin sollen wir in Rio gehen? Die Stadt ist sehr teuer geworden. Hier ist unser Platz. Wir möchten den Besuchern der WM unsere Kunst verkaufen.“ Widerstand gegen den Abriss kommt nun auch aus den staatlichen Institutionen. Zwei Denkmalschutzbehörden opponieren gegen den Beschluss, sie fühlen sich übergangen. Außerdem prüft die Unesco, ob das Museum nicht Teil des Weltkulturerbes sei, als das sie Rio „zwischen Bergen und Meer“ ziemlich schwammig deklariert hat.
Die Landesregierung von Rio de Janeiro scheint das bisher nicht zu beeindrucken. Die Gelder für den Abriss des Indianermuseums, umgerechnet 225 Millionen Euro, sind bereits bewilligt worden, den Besetzern um Häuptling Tucano wurde der Räumungsbeschluss schon zugestellt. Der Regierung rennt offenbar die Zeit davon. Die Brasilianer müssen das Maracanã-Stadion am 28. Mai der Fifa übergeben, bereits für den 2. Juni ist das Einweihungspiel gegen England geplant. Und am 15. Juni startet in Brasilien der Confederations-Cup.
Was soll anstelle des Indianermuseums entstehen: Ein Parkplatz. Dieser könnte nicht nur dem Maracanã, sondern auch einem Shoppingcenter dienen, das der reichste Mann Brasiliens, Eike Batista, möglicherweise neben dem Stadion plant. Batista und Gouverneur Cabral sind enge Freunde, der Unternehmer lieh dem Politiker schon sein Privatflugzeug. Derselbe Batista konkurriert auch um den Betrieb des Maracanã-Stadions. Es wird wie andere brasilianische Stadien nach seiner Fertigstellung privatisiert. Den Umbau des Stadions finanzieren die brasilianischen Steuerzahler mit umgerechnet rund 350 Millionen Euro, der neue Betreiber erhält es für 2,5 Millionen Euro Pacht im Jahr – viel zu wenig, wie Kritiker monieren. Allerdings ermittelt bereits die Justiz gegen die Ausschreibungsbedingungen. Die Machbarkeitsstudie wurde von Batistas Firma IMX besorgt, die nun die besten Chancen auf die Übernahme des Stadions hat.
Ironie der Geschichte: Die ersten Verlierer des Konflikts sind zwei Arbeiter von der Maracanã-Baustelle, die sich spontan mit den Indianern solidarisierten. Als sie zu ihrer Arbeit zurückkehren wollten, wurden sie entlassen. Die Indianer erklärten die beiden umgehend zu Helden.