Rio: Samba auf Deutsch

Rio: Samba auf Deutsch

Als der Regen um 23 Uhr schlagartig vom Himmel fällt, haben sie gerade die Hälfte des Programms absolviert. Binnen weniger Minuten sind 4000 Menschen klatschnass. Aber sie rennen nicht etwa auseinander, nein. Es wird weiter getrommelt, getanzt und gesungen. Bis man am Ende knöcheltief durchs Wasser watet. Da ist es schon Mitternacht.

Wir sind bei den Proben von Unidos da Tijuca in Rio de Janeiros zerfallenem Hafenviertel. Gegründet 1931 im Stadtteil Tijuca sind die Unidos die drittälteste Sambaschule Rios. Und auch eine der ehrgeizigsten. Als die Menge nach der Probe in den Toreinfahrten Schutz sucht, lernt man eine Porta-Bandeira kennen, eine der Fahnenträgerinnen. In der Rechten hält sie ihre geschundenen Stöckelschuhe, in der Linken die blaugelbe Standarte der Unidos. Ihr Dress ist völlig durchnässt, aber sie singt immer noch den diesjährigen Titelsong: „Brasilien und Deutschland vereint: Farben, Kulturen und Können. Es donnert, es wird ein unvergessliches Jahr.“


Deutschland? Ganz recht. Die Unidos haben sich ein eher ungewöhnliches Motto für ihren 80-minütigen Auftritt in Rios Sambódromo ausgesucht: „Alemanha Encantada“ – Verzaubertes Deutschland. Letztes Jahr gewann die Schule den hart umkämpften Wettbewerb. Nun geht es um nicht weniger als die Titelverteidigung, viel Geld und noch mehr Ehre. Doch wie soll das zusammengehen: Deutschland und Karneval in Rio?

Am Tag nach dem Wolkenbruch besucht man das Hauptquartier der Unidos in der Samba-Stadt. Man betritt eine Halle groß wie ein Flugzeughangar. Darin sägen, schweißen und hämmern Arbeiter an den Themenwagen. Bis knapp unter die Decke reichen die acht Gefährte, die auf die Unterbauten ausrangierter Omnibusse montiert wurden. Da gibt es einen Wagen mit überlebensgroßen Playmobilfiguren; einen mit dem Mond (für die deutschen Raketenforscher); und einen mit Gestalten aus der germanischen Mythologie, im Zentrum der Donnergott Thor. „Um ihn herum werden Elfen und Gnome tanzen“, erklärt Bruno Tenório.

Der sympathische 31-Jährige ist der Marketingchef der Unidos und einer derjenigen, die hinter der Deutschland-Idee stecken. Mehrfach reiste er letztes Jahr mit einem Team nach Köln und Berlin, um sich über das neue Deutschland zu informieren. „Den meisten Brasilianern fällt zu Deutschland nur Bier, Wurst, Michael Schumacher und Adolf Hitler ein. Das wollten wir ändern.“ Tenório bittet in den zweiten Stock der Sambaschule, in ein kühles geräumiges Büro ohne Fenster. Auf einem Tisch in der Mitte stehen Dutzende Pokale, an den Wänden hängen in einer langen Reihe Urkunden.

Viele der Auszeichnungen sind einem Mann zu verdanken: Paulo Barros. Er ist der Carnevalesco der Unidos: ihr künstlerischer Stratege. Zweimal gewann die Schule mit ihm den Wettbewerb, dreimal holte sie die Vizemeisterschaft. Außerdem ergatterte sie unzählige Untertitel, etwa für die beste Musik. Der 50-Jährige entwirft die Dramaturgie jedes Umzugs, ist so etwas wie Drehbuchautor, Regisseur, und Bühnenbildner in einem.

„In Europa denkt man bei Karneval in Rio an wackelnde Hintern“, erklärt Bruno Tenório. „In Wirklichkeit handelt es sich um Oper.“ Paulo Barros hat Deutschland in fünf Akte gepackt. Jeder wird von einem Block aufgeführt, die jeweils in sechs Flügel unterteilt sind. In einem Flügel tanzen 80 bis 250 Menschen – je nachdem wie viel Platz die Kostüme, die Fantasias, einnehmen. Barros’ Deutschland-Erzählung beginnt mit den germanischen Göttern, Wesen und Wäldern. Es folgen etwas sprunghaft Goethes Faust, Bert Brechts Ausgestoßene, Fritz Langs Roboter und Marlene Dietrich als Blauer Engel. Im „Universum der Kinder“ will man deutsche Märchen und Spielzeuge vorstellen – denn „in Brasilien hält man Rotkäppchen für eine Amerikanerin“, sagt Tenório. Dann werden technische Erfindungen vorgetanzt: Buchdruck (ein mit Buchstaben behängter Gutenberg), Zeppelin, Röntgenapparat. Nur zum Ende hin konnte man sich den Griff in die Klischeekiste nicht verkneifen: Weißwurst, Bier und eine Schwarzwälder Kirschtorte, die aus 80 lebenden Kuchenstücken zusammengesetzt wird. Den Schlusspunkt bilden die neuen Deutschen, die Immigranten. Eine schöne Parallele zu den fünf Millionen Deutschen, die seit dem 19. Jahrhundert nach Brasilien ausgewandert sind.

Das Spektakel wird in voller Länge von Brasiliens mächtigem Globo-TV übertragen, kommentiert von Experten, die den 190 Millionen potentiellen Zuschauern jedes Detail erklären. „Unsere Show ist die beste Werbung für das moderne Deutschland“, glaubt Marketingchef Bruno Tenório. Und trotzdem spielten die Deutschen im Vorfeld nicht mit. „Besonders gut sind wir nicht mehr auf euch zu sprechen“, sagt er. Später trifft man Fernando Horta, seit 26 Jahren Präsident der Samba-Schule. Er kaut grummelnd auf einer Zigarre und möchte nicht viel sagen. Er soll schon soweit gewesen sein, das Deutschland-Thema zu kippen.

Der Umzug kostet die Unidos da Tijuca umgerechnet 4,5 Millionen Euro. Die eine Hälfte der Gelder stammt unter anderem von der Stadt Rio und dem staatlichen Erdölkonzern Petrobras. Die andere von Sponsoren. Und da hatte sich Bruno Tenório von den 1200 deutschen Firmen in Brasilien einiges versprochen. Umsonst. Die Deutschen präsentierten sich, wie man sie sich vorstellt: streng, verklemmt, voller Bedenken. Eigentlich wollte man diese Klischees ja brechen.

Angeregt wurde das Projekt vom Deutschen Generalkonsulat in Rio und dem Goethe-Institut. Der Anlass: die Initiative „Deutschland + Brasilien 2013/14“, die maßgeblich vom Auswärtigem Amt und dem Bundesverband der Deutschen Industrie gemanagt wird. Sie verstehen die Initiative als Förderprogramm für die deutsche Wirtschaft. Vor dem Karneval und seinem schlüpfrigen Image schien man sich hingegen regelrecht zu fürchten. „Als wir im Auswärtigen Amt vorsprachen, rümpften sie die Nase“, erinnert sich Ténorio. Die Deutsche Botschaft in Brasilia verschloss sich. Und die Handelskammer in Rio wollte eine Kommission für die Sponsorenvermittlung kassieren, wie der „Spiegel“ schrieb. „Keiner hatte eine Ahnung von der Bedeutung des Karnevals für die einfachen Brasilianer“, sagt Tenório.

Fairerweise muss man sagen, dass viele Sambaschulen als Geldwaschanlagen für das Glücksspiel fungieren. Doch gerade in dieser Hinsicht gelten die Unidos da Tijuca als relativ sauber. Tenório brauchte Monate bis er VW, Merck und Stihl an Bord hatte – und heute dennoch auf Schulden von fast 400.000 Euro sitzt. „Es war die frustrierendste Erfahrung, die ich je gemacht habe“, sagt er.

Eine Etage über Tenorio hat man andere Sorgen. Dort nähen und kleben 100 Arbeiterinnen 4000 Kostüme. Drachenflügel werden einsortiert und blonde Zöpfe geflochten, Schwaden von Farbspray ziehen durch die Räume. Larissa dos Santos bastelt gerade an einem der knallroten Kostüme für die Tänzer, welche die Kirschen auf der Kirschtorte tanzen lassen sollen. Die 29-Jährige verdient 900 Reais im Monat, 330 Euro. „Besser als nichts“, sagt sie. „Und dass Schneewittchen nicht von Disney ist“, weiß ich jetzt auch. Das musste man Christoph Quade nicht erzählen. Der 31-jährige Kölner kommt seit 2007 jedes Jahr nach Rio, um in der Bateria, der Rhythmusabteilung der Unidos, sein Tamburin zu schlagen. Der Schlacks findet das Thema Deutschland richtig gut. „Die können zwar mit Beethoven nicht so viel anfangen“, sagt er bei einer Probe. „Aber ich kriege jetzt richtig viel Aufmerksamkeit.“