Man kommt Mittags am Busbahnhof an, und das erste was man sieht ist: Himmel. So weit und hoch gespannt, dass er die Erde nie zu berühren scheint. Eine monumentale Kulisse für eine grandiose, gescheiterte Stadt.
Man tritt vor den Busbahnhof und das zweite, das einen trifft, ist das Licht. Gleißend und flimmernd. Man kneift die Augen zusammen und stellt den Kragen hoch. Eine Hochplateausonne brennt hier auf 1200 Metern zornig auf Brasilia hinab – so als ob sie meinte, dass dieser Ort nicht in die durstige Savanne des brasilianischen Cerrado gehöre.
Das dritte: Man wünscht sich ein Auto, zumindest ein Fahrrad. Den um den Busbahnhof herum verlaufen Straßen und Brücken. Aber dahinter ist Wiese. Brasilia wird nicht von seinen Achsen oder futuristischen Bauten definiert, sondern von dem Raum dazwischen. Also marschiert man los, immer auf die zwei Türme in der Ferne zu, auf die hier alles ausgerichtet zu sein scheint. Man möchte ja etwas sehen von den Gebäuden Oscar Niemeyers, dem am Mittwoch 104-jährig verstorbenen Architektursolitär. Er wurde gerühmt als einer, der dem Beton Schwingen verlieh; und geschimpft als Verächter der Menschen, die in seinen Bauten zu leben und arbeiten hatten.
Brasilia ist Oscar Niemeyers Stadt. Er hat sie nicht entworfen, aber er hat sie doch prägend mitgestaltet und alle ihre emblematischen Gebäude errichtet. Sie erinnern einen an: nichts, was man jemals zuvor gesehen hat.
Man läuft also eine 250 Meter breite, leicht abfallende Wiese hinunter, die Doppeltürme liegen bestimmt zwei Kilometer entfernt. Dies ist die „Eixo Monumental“, Zentralachse des repräsentativen Brasilias. Die Wiese selbst ist menschenleer und von Trampelpfaden durchzogen, alles Wichtige steht an ihren Rändern. Und so fühlt man sich hier auch: klein, der Sonne ausgesetzt – zumindest nicht erhoben von der erhabenen Stadtanlage. Wer sich das hier ausgedacht hat, tat es aus der Vogelperspektive.
Nach knapp 800 Metern Fußmarsch rechts das erste Highlight: ein zylindrisches Gebäude, in dem alles nach oben strebt. Man assoziiert eine Krone mit 16 Zacken. Klar, es ist die Dornenkrone. Das Geniale an Niemeyers Kathedrale ist ihre demokratische Anmutung: keine phallischen Türme oder einschüchternden Portale. Und im Innern ein runder Kirchenraum – der allerdings im Vergleich mit dem Außen etwas von einem evangelischen Gemeindezentrum hat. Das Licht fällt hier von oben durch die Glasdecke, so dass dies wahrscheinlich die hellste katholische Kirche der Welt ist. Aber auch die einsamste. Denn sie steht verlassen, es gibt keine Wohnviertel, ihre Adresse: Parzelle 12. Vielleicht taugt sie gerade deswegen als tolles Fotomotiv. Wie sie weißgetüncht die Sonnenstrahlen vor dem tiefseeblauen Himmel reflektiert. Es ist ein charakteristisches Merkmal von Oscar Niemeyers Bauten, dass viele sie von außen bewundern und die wenigsten sie je betreten.
Es geht weiter die Wiese hinab. Rechts und links stehen 17 identische Gebäude mit zwölf Stockwerken. Die Ministerien der brasilianischen Regierung sind kastenförmig, haben grüne Fenster und viel Platz zwischen sich. Die Verdichter der Berliner Stadtplanung würden hier Selbstmord begehen. Brasilias Zentrum ist seit 1987 Weltkulturerbe der Unesco und darf nicht angetastet werden.
Man überquert zwei Querstraßen und steht vor Niemeyers wichtigstem Gebäude. Dem Hort der brasilianischen Demokratie: O Congresso Nacional. Links die gewölbte Kuppel des Abgeordnetenhauses, rechts die Schale für den Senat. Der Stahlbeton wirkt wie so oft bei Niemeyer leicht und flexibel. Die Idee zum Kongress soll er gehabt haben, als der Präsident einmal eine halbierte Orange fallen ließ. Die eine Hälfte landete nach unten, die andere nach oben gewendet.
Hinter dem Kongress erheben sich elegant die 92 Meter hohen Doppeltürme die man schon von der Busstation aus sehen konnte. Die beiden Hochhäuser mit den Abgeordnetenbüros erinnern in ihrer angenehmen Sachlichkeit an das ebenfalls von Niemeyer entworfene UN-Gebäude in New York. Die Adresse: Anbau I. Es ist diese Verquickung von erstaunlichen Formen mit einer bürokratischen Rationalität, die in Brasilia so irritiert: Sowjetunion unter glühender Sonne.
Ein freie Rampe führt zu Schale und Kuppel hinauf und verleiht das Gefühl, sich etwas Wichtigem zu nähern. Doch auf das Betreten des Kongresses folgt Ernüchterung. Dies ist, wenn man so will, Bundestag und Bundesrat zusammen. Aber im Innern hat das Haus den muffigen Charme der alten FU-Rostlaube mit ihren engen, düsteren Teppichgängen. Im Senat findet gerade eine Abstimmung statt, man kann sich problemlos auf den Balkon über die 81 Senatoren setzen, die in einem Halbrund streiten. Die brasilianische Demokratie zeigt sich heute offen. Fenster nach draußen gibt es trotzdem nicht. Man fragt sich nach dem Sinn der fantastischen Hülle, wenn man in ihrem geizigen Innern nichts von ihr hat.
Läuft man um den Kongress herum, gelangt man auf den Platz der drei Gewalten. Hier stehen vis-a-vis und hochsymbolisch: der Präsidentenpalast und der Sitz des obersten Gerichtshofs. Beide Gebäude, von Niemeyer entworfen, ähneln sich: jeweils ein rechteckiger Glaskasten, der von einem Dach aus Beton geschützt wird, das auf segelförmigen Stützen ruht. Zwischen beiden Häusern erhebt sich über dem ausgestorbenen Platz ein 100 Meter hoher Mast mit einer gigantischen Flagge: grünweißblaugelb vor einem horizontlosen Äther. Was für Rio das Meer, das ist für Brasilia der Himmel.
Die brasilianische Verfassung legte 1891 fest, dass das Land nach Salvador und Rio de Janeiro eine neue Hauptstadt bekommen soll. 1000 Kilometer fern der Küsten und ausländischer Angriffe; stärker im Zentrum, um den föderalen Charakter der Nation zu betonen. Doch erst der sozialdemokratische Präsident Juscelino Kubitschek nahm das Projekt 1956 in Angriff. Er lud den Sozialisten Oscar Niemeyer zum Bau ein und beauftragte Lúcio Costa mit der Stadtplanung. Costa zeichnete ein Flugzeug, den „Plano Piloto“. Die Kanzel, das ist der Platz der drei Gewalten. Und in den Tragflächen brachte man Wohnblocks, Geschäfte, Banken und Hotels unter. Nichts wurde dem Zufall überlassen, sogar die Uniformen der Busfahrer bestimmte Costa: „dunkelgrau, Hüte sind Pflicht.“
Nach vier Jahren weihte Kubitschek Brasilia ein, obwohl die Stadt noch nicht fertig war. Aber er hatte Fortschritt versprochen: „50 Jahre in fünf!“ Dafür fand er in dem tollkühnen und von der Machbarkeit der Dinge überzeugten Oscar Niemeyer einen Verbündeten. Es war die Zeit, als Brasilien sich anschickte zur Weltmacht zu werden. Es war auch die Zeit, als man glaubte den menschlichen Fortschritt bauen zu können.
„Eine Stadt wie von einem anderen Planeten“, sah der erste Mensch im All, Yuri Gagarin, auf Besuch in Brasilia. Und Aldous Huxley, Autor von „Schöne neue Welt“, schwärmte als er in die Stadt kam: „Eine Reise von alten Eroberungen zu neuen Versprechungen.“ Nun gut, heute gibt es in Brasilia endlich auch eine Metro, die das Zentrum mit den Satellitenstädten verbindet, in denen die Mehrzahl der 2,5 Millionen Einwohner lebt.
Am Abend besucht man eine Freundin in einem Vorort: Ceilândia, 25 Kilometer vor Niemeyers Zukunftszentrum gelegen, 330.000 Einwohner, kleine vergitterte Einfamilienhäuser auf roter Erde. Wenn im Zentrum das Visuelle überwiegt, ist es hier draußen: Geruch, Lärm und Körperlichkeit. Michelles Großvater war ein „Candango“, ein Bauarbeiter. Er kam aus dem armen Norden Brasiliens um Brasilia zu bauen, und er blieb. Michelle ist heute Uni-Dozentin, und sie mag ihre Stadt immer mehr, weil sie jeden Tag besser organisiert und wohlhabender werde. Sie sagt auch: „Niemeyer: schön und gut. Aber Brasilia, das sind doch in erster Linie wir, die Menschen, die hier leben.“