Mexiko: Der Dichter und der Tod

Mexiko: Der Dichter und der Tod

Als Javier Sicilia während einer Literatur-Konferenz auf den Philippinen erfuhr, dass sein Sohn ermordet worden war, rauchte er eine Packung Zigaretten und entschied, nachdem er die letzte Zigarette ausgedrückt hatte, dass Juan Francisco nicht umsonst gestorben sein sollte.

Foto: Zapata – CC BY-SA 4.0, www.commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15154821

Auf der Beerdigung las Sicilia ein Gedicht. Es endete mit dem in Mexiko mittlerweile berühmten Satz: „La poesía ya no existe en mí“ – Die Poesie in mir ist erloschen.

Sicilia, einer der bekanntesten Schriftsteller seines Landes, hat keine Literatur mehr veröffentlicht seit jenem März 2011. Stattdessen versucht er, dem sinnlosen Tod seines Sohnes einen Sinn zu geben.

Er gründete die „Bewegung für den Frieden in Gerechtigkeit“, der sich Angehörige der Opfer des Drogenkriegs angeschlossen haben. Sie gilt schon jetzt als eine der wichtigsten sozialen Bewegungen Mexikos. Sicilia prägte die Formel: „Estamos hasta la madre!“ – Wir haben die Schnauze voll! Vom Militär, von den Drogenkartellen und der Eskalationsstrategie der Regierung, die Mexiko in ein Schlachthaus verwandelt hat und die Mexikaner in das Schlachtvieh.

Aus dem Präsidentenpalast wird behauptet, dass in diesem Krieg 50.000 Menschen seit 2006 umgebracht worden seien. Aber das Nationale Institut für Statistik veröffentlichte vor wenigen Tagen eine ganz andere, horrende Angabe: 120.000 Tote. In Mexiko tobte demnach der blutigste Konflikt der Welt, mit mehr Opfern als in Afghanistan oder Syrien.

„Die Morde und das Schicksal der Verschwundenen müssen endlich untersucht werden“, fordert Sicilia. „Schluss mit der Straffreiheit!“ Wie sehr die Mexikaner sich nach Gerechtigkeit sehnen, zeigten sie, als ein von Sicilia organisierter Sternmarsch nach Mexiko-Stadt zu einer Massendemonstration anschwoll.

Dabei ist der 56-Jährige ein ziemlich ungewöhnlicher Anführer: leise im Auftreten, eher bittend als fordernd, inspiriert vom mystischen Katholizismus einer Santa Teresa de Ávila. Ein Roman über Johannes den Täufer gehört zu seinem Werk, ebenso einer über den polnischen Priester Maximilian Kolbe, der in Auschwitz umgebracht wurde. „Ich wollte nie ein Sprecher für irgendetwas sein“, sagt Sicilia, „aber nach dem Tod meines Sohnes musste ich der Tragödie eine Form, einen Namen geben“.

Es ist dieser Hintergrund, der Sicilias Worten ihr besonderes Gewicht verleiht. Als er dem nächsten Präsidenten Mexikos, dem glatten Enrique Peña Nieto, ein „kaltes Herz“ attestierte, war das kein Wahlkampf, sondern Ausdruck einer tiefen seelischen Verwundung. Und Sicilia sprach so vielen Mexikanern aus ihrer verwundeten Seele, als er am Ende einer ergreifenden Rede in Mexiko-Stadt nichts weniger als die Neugründung der Nation forderte.

Wie immer trug der Schriftsteller da seine alte Fotografenweste, den abgewetzten Lederschlapphut und einen ergrauten Fünftagebart. Eitelkeit gehört nicht zu seinen Schwächen. Wenn man Sicilia etwas vorwerfen will, dann die Gutgläubigkeit, dass Worte und moralische Appelle eine Auseinandersetzung stoppen könnten, bei der es um Milliarden von Dollars geht. Dass die Mafias keinen Ehrenkodex mehr hätten, beklagte Sicilia ja selbst, sie glichen SS-Mordkommandos.

Nun führt der Schriftsteller eine „Karawane für den Frieden“ durch die USA an. Es ist nur konsequent, dass er sein Engagement über die Grenze nach Norden ausweitet. Die US-Amerikaner gieren nach den Drogen aus Mexiko. Und sie liefern den Mexikanern die Waffen, mit denen der Drogenkrieg geführt wird. „Die USA tragen die Hälfte der Verantwortung für das, was in Mexiko geschieht“, meint Sicilia. Den ersten Stopp legte er in Los Angeles ein, wo ihm prominente Filmregisseure ihre Solidarität versicherten, darunter Alfonso Cuarón („Harry Potter“) und Alejandro González Iñárritu („Babel“).

Dann traf Mexikos berühmtester Dichter „Amerikas härtesten Sheriff“. In Arizona macht Joe Arpaio Jagd auf mexikanische Einwanderer und lässt sie in rosafarbene Gefängniskleidung stecken. Sicilia, der Katholik, appellierte an den Katholiken Arpaio, der doch ein Herz haben müsse. Arpaio antwortete, er setze Recht und Ordnung durch – auch als er eine Gebärende in Handschellen legte.

Sicilia und mehr als hundert Opferangehörige und Aktivisten fahren nun in Bussen weiter Richtung Ostküste. Sie machen Halt in mehr als 20 Städten und wollen am 12. September in Washington ankommen und, wenn möglich, US-Präsident Barack Obama treffen.

Einer von dessen Vorgängern, Richard Nixon, verkündete vor 40 Jahren den „War on Drugs“: einen der fatalsten und teuersten Irrtümer der Geschichte. Drogenhandel und Konsum haben stets zugenommen, und die Drogenkartelle sind heute international agierende Organisationen mit diversen Geschäftszweigen. Sie waschen ihre Milliarden in Großbanken, bringen Staaten an den Rande des Zusammenbruchs und verseuchen Gesellschaften mit Geld, Gier und Gewalt. Doch keine US-Regierung wagt es, den „War on Drugs“ infrage zu stellen. Er alimentiert einen gigantischen Apparat aus Behörden und privaten Gefängnisbetreibern, die ein Interesse an der Fortführung des Konflikts haben. So wird weiter mit Polizeimethoden ein soziales und gesundheitliches Problem bekämpft.

„Wenn die Regierungen unfähig zum Dialog sind, dann müssen die Bürger miteinander reden“, erklärt Sicilia die Idee hinter der Karawane. Das mag naiv klingen, aber es ist folgerichtig für einen Mann der Worte. Seinen Reden stellt Sicilia meist Zitate voran, von Benjamin Franklin oder Ezra Pound und sehr oft von Bob Dylan. Im Rathaus von Los Angeles begann er so: „Oh, where have you been, my blue-eyed son? And where have you been my darling young one?“ Es sind die ersten Zeilen aus Dylans „A hard rain’s gonna fall“.

Am 28. März 2011 fand man die Leichen des 24-jährigen Juan Francisco Sicilia und sechs seiner Freunde in einem Auto in der Stadt Cuernavaca. Sie waren mit Klebebändern über Mund und Nase erstickt worden, an ihren Körpern prangten Folterspuren. Die Jugendlichen hatten versucht, eine Kamera wiederzubekommen, die ihnen in einer Diskothek gestohlen worden war. Dabei hatten sie sich unwissentlich mit Mitgliedern eines Drogenkartells angelegt. Nachdem drei der Mörder gefasst worden waren, bot Javier Sicilia ihnen Vergebung an. „Ich glaube, dass noch Menschlichkeit in ihnen ist“, vermutete er.