Gilberto Gil, 62, ist einer der bekanntesten Musiker Brasiliens. Er gilt als der „König des Bossa Nova“ und ist Mitbegründer der avantgardistischen Tropicalismo-Bewegung der 1960er Jahre. Er hat bisher elf goldene Schallplatten und fünf aus Platin gewonnen. Seit zwei Jahren ist er Minister für Kultur in der Regierung von Präsident Lula da Silva.
Foto: Antonio Cruz/ABr.
Herr Gil, ist Ihnen der Wechsel von Bühne ins Ministerium nicht schwer gefallen?
Die Aufgabe ist im Grunde die gleiche. Man muss Menschen orchestrieren. Der Unterschied ist eher quantitativer Art. In meiner Band spielen zehn Musiker, für das Ministerium arbeiten 3000 Menschen. Ich versuche, sie alle zu mögen und auf ihre unterschiedlichen Temperamente einzugehen. Ich will ihr Engagement herausfordern. Aber in der Band wie im Ministerium muss ich mich mit den gleichen menschlichen Problemen auseinandersetzen.
Es ist das erste Mal, dass ein Künstler in Brasilien Minister ist. Was hat sie bewogen, den Posten anzunehmen?
Es war ein Gefühl der Verantwortung. Nachdem sich meine künstlerischen und materiellen Ambitionen erfüllt hatten, verspürte ich das starke Bedürfnis, den Menschen in meinem Land zu dienen. Die Zusammenarbeit mit Lula wiederum war eine Herausforderung. Ich will ihm dabei helfen, eine andere Politik zu verwirklichen.
Aber kann es nicht sein, dass der Künstler Gil und der Politiker Gil manchmal in Konflikt miteinander geraten. In der Kunst können sie sich frei ausdrücken, in der Politik müssen sie Kompromisse machen?
Ich sehe die Politik als eine Kunstform. Wie alles im Leben sollte man sie mit Liebe und Kreativität betreiben und versuchen sie zur Vollendung zu bringen. Und wie die Kunst sollte auch die Politik immer nur dem Wohl der Menschen dienen.
Das ist ein sehr ideeller Blick auf die Politik.
Es ist eine ideeller Blick auf die ganze Welt. Wenn ich morgens aufstehe und mir die Zähne putze, versuche ich, das so gut wie möglich zu machen. Das Zähneputzen wird so zur Kunst. Wenn ich anschließend Yoga mache, ist das Kunst. Sogar aufs Klo gehen und pinkeln kann ein künstlerischer Akt sein.
Was hat sich in Brasiliens Kulturszene seit ihrem Amtsantritt verändert?
Ich kann nicht sagen, was draußen im Land anders geworden ist. Aber diese Regierung hat eine neue Sicht von dem, was Kultur ist und was sie leisten kann. Wir rechnen nicht nur klassische Musik dazu, sondern ebenso die traditionellen Kulturen der ehemaligen afrikanischen Sklaven oder der Indios. Es gibt für uns keine Hierarchien in der Kunst. Wir verstehen unter Kultur auch eine Anleitung zum guten Umgang der Menschen miteinander.
Sieht der Finanzminister die große Bedeutung ihrer Arbeit ähnlich?
Ich erwarte nicht, dass er die Dinge so sieht, wie ich? Das Kulturministerium ist immer ein schwaches Ministerium gewesen. Um es aufzuwerten, hat Lula mich geholt. Mein Job besteht darin, den Finanzminister davon zu überzeugen, dass die Kultur mehr Geld braucht. Letztes Jahr bekamen wir Jahr 0,2 Prozent des Gesamtbudget. Dieses Jahr stehen uns 0,4 Prozent zur Verfügung. Am Ende der Legislaturperiode will ich ein Prozent des Staatshaushalts.
Brasilien ist ein armes Land aber reich an Kultur. Was macht diesen Reichtum aus?
Wir sind das ethnisch vielfältigste Land der Welt. Die verschiednen Gruppen leben nicht wie in den USA voneinander getrennt, sondern haben sich vermischt. Dieser Prozess findet seit Jahrhunderten statt. Die Einwanderung ist der Reichtum Brasiliens. Unsere Kultur ist aber verglichen mit der Europas sehr jung. Sie ist vielleicht deshalb frecher und fordert die konventionellen Konzepte von Kultur als nationale Angelegenheit heraus. Ich glaube, dass Brasilien gerade wegen seiner Vielfalt in Europa in Mode ist. Diese Buntheit ist doch sehr attraktiv.
Taugt Kultur denn als Mittel zur Armutsbekämpfung?
Natürlich. Lassen Sie uns zunächst über finanzielle Armut sprechen. Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass die brasilianische Kulturindustrie jedes Jahr 15 bis 20 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Ich glaube aber, es sind so um die 40 Milliarden Dollar. Und ich sehe noch ein enormes Wachstumspotential. Wir arbeiten gerade daran, die brasilianische Filmindustrie anzukurbeln. Ich möchte das jedes Jahr 100 statt wie heute nur 30 Filme produziert werden. Ich will eine Lotterie aufbauen, deren Erlöse der Kulturarbeit zugute kommen. Außerdem wird diese Regierung Open-Source-Software einführen. Dann ist Kultur natürlich auch eine emotionale Bereicherung für die Menschen. Armut bedeutet nicht nur kein Geld zu haben. Es ist auch die Unfähigkeit, sich ausdrücken zu können.
Gibt es so etwas wie eine brasilianische Identität?
Wir sollten uns vom Konzept einer nationalen Identität verabschieden. Identität ist etwas bewegliches, das täglich geformt wird. Sie ist wie eine Landschaft, die jemand aus einem fahrenden Zug betrachtet. Sie verändert sich langsam aber stetig. Aber die Züge fahren heute schneller als je zuvor in der Geschichte. Das liegt an den gewaltigen Kommunikationsmöglichkeiten. Die Menschen haben viel mehr Wünsche als früher. Sie gehen mit einem Wunsch schlafen, wenn sie aufwachen, haben sie schon wieder einen neuen. Die Wünsche formen die Menschen. Es ist daher nutzlos nach Identität zu suchen. Unser Wesen ist universell wie das Wesen der Musik.
Sie kommen Salvador do Bahia im Nordosten Brasiliens, der Hauptstadt des Voodoo. Haben sie mal an einem Ritual teilgenommen?
Natürlich. Ich bin initiiert im afro-brasilianischen Candomblé-Kult und trage jeden Freitag wie vorgeschrieben weiße Kleidung.
Sie sind der erste Voodoo-Minister der Welt?
Nicht ganz. Auf einem Treffen der Kulturminister der amerikanischen Staaten in Mexiko vor einigen Wochen habe ich die Kulturministerin Haitis getroffen. Sie ist Schauspielerin, Ministerin und Voodoo-Priesterin.
Sie stehen trotz ihres Jobs als Minister immer noch als Musiker auf der Bühne. Verdienen Sie nicht genug oder ist der Job emotional nicht befriedigend genug?
Als der Präsident mich fragte, ob ich seinem Kabinett angehören wolle, habe ich ihm klipp und klar gesagt: ‚Aber Du musst mich weiter auftreten lassen.’ Ich habe eine Familie zu versorgen, ich muss die 50 Angestellten in meiner Produktionsfirma bezahlen. Ich hätte meinen Lebensstandart mit dem Gehalt eines Ministers, das bei rund 3000 Euro liegt, nicht halten können. Mein Finanzberater hat durchgerechnet, dass ich am Ende der Legislaturperiode mein Erspartes aufgebraucht hätte. Aber ich will natürlich auch mit der Musik in Kontakt bleiben. Es gibt für mich keinen Widerspruch zwischen dem Minister Gil und dem Musiker Gil. Die Gitarre ist mein Stift, ein Stift wird für mich zur Gitarre.
1968 wurden Sie von der Militärjunta wegen ihre subversiven Songs festgenommen und für Monate inhaftiert. Dann schob man Sie nach London ab.
Was gar nicht so schlecht war, denn dort habe ich Bob Marley kennen gelernt, der mich später seinen ‚brasilianischen Bruder’ nannte. Bob ist nach wie vor ein großes Vorbild für mich.
Hat sich die Sicht des Publikums auf Sie verändert?
Am Anfang war es schwierig. Die Leute sagten, ‚Guck mal, der Minister steht auf der Bühne’. Aber man hat sich an den musizierenden Minister gewöhnt. Ich habe mich durch den Posten nicht verbiegen lassen.
Und ihre Ministerkollegen sagen, ‚Guck mal der Künstler am Kabinettstisch’. Sind die nicht neidisch auf ihre Popularität?
Die finden es toll, dass ein berühmter Musiker bei ihnen ist. Vor fünfzig Jahren wäre ein Minister mit Gitarre vom Establishment noch als Beleidigung empfunden worden. Als Popkünstler war man damals noch ein Mensch zweiter Klasse.