Das Wolfsburg Rumäniens ragt aus einer staubigen Ebene auf: ein bewaldeter Hügel, darauf zwei mächtige, weiße Gebäudeblocks. Der eine schlank und elegant, der andere breit und klotzig.
Drum herum eine bröcklige Betonmauer. Davor flattern Fahnen im Aprilwind. Beim Anstieg über eine steile Straße liest man auf dem Klotz „Dacia“, in Kapitalen. Darunter: „groupe Renault“. Der französische Konzern hat Rumäniens größte Autoschmiede 1999 gekauft, modernisiert und vor dem sicheren Ruin bewahrt. Nun wird hier oben das billigste Auto Europas gebaut, 7200 Euro kostet der Dacia Logan in Deutschland. 230.000 Stück verließen 2007 das Werk, und wegen der reißenden Nachfrage sollten es dieses Jahr fast doppelt so viele werden.
Doch danach sieht es heute nicht aus.
Stille liegt über dem 30 000 Quadratmeter großen Werksgelände mitten in der Walachei, zwei Autostunden westlich von Bukarest. Nur ein paar Lkw-Fahrer lehnen rauchend an ihren leeren Autotransportern. Die Maschinen bei Dacia stehen still, 9500 der 13.000 Dacia-Arbeiter streiken. Seit zwölf Tagen schon, und zunehmend ungläubig schauen die Rumänen auf den größten Arbeitskampf in einem Privatunternehmen seit 1989. Erstaunen ruft die selbstbewusste Forderung der Arbeiter nach durchschnittlich 55 Prozent mehr Lohn hervor. Doch geradezu spektakulär ist, dass die Arbeiter in einem Billiglohnland aufgestanden sind und sagen: „Schluss mit der Ausbeutung. Wir sind keine Kolonie.“ Dacia könnte ein Präzedenzfall werden.
15 Uhr, Schichtwechsel. Hunderte Männer und Frauen strömen durch die Gitterdrehtüren zu den Gelenkbussen vor dem Werk. Die erste Streikschicht geht nach Hause. Einige kaufen noch Tomaten und Zwiebeln bei den Gemüsehändlern, die auf dem Parkplatz warten. Mittendrin steht Ion Iordache und zieht an der Zigarette, die er unter seinen grauen Schnauzer gesteckt hat. Er winkt zwei Männer herbei. „Arbeiter, kommt mal her.“ Die Männer grüßen Iordache mit dem Zeigefinger. Der 53 Jahre alte Iordache, der aussieht wie der junge Lech Walesa, ist Vize-Betriebsratsvorsitzender bei Dacia. „Erklärt mal, warum wir streiken.“ Die Antwort kommt prompt: „Von diesem Lohn kann kein Mensch leben“, sagt einer der Arbeiter, der sich als Costel vorstellt. „Also können wir auch neben den Maschinen sitzen und Backgammon spielen.“ Costel trägt eine abgewetzte Lederjacke, dazu Jeans mit Schlag. Aus dem Schatten einer Baseballkappe fixiert er sein Gegenüber mit bernsteinfarbenen Augen. Kräftige, schwielige Hände erzählen von jahrzehntelanger Arbeit.
Seit er 17 ist, arbeitet Costel bei Dacia, 1973 hat er angefangen. Nur fünf Jahre zuvor war der erste „rumänische Volkswagen“, der Dacia 1100, vom Band gerollt. Diktator Nicolae Ceausescu nahm die Kopie des Renault 8 in Empfang – er hatte die Lizenz zum Nachbau in Frankreich erworben. „In jedem Dacia, der heute fährt, steckt ein Teil von mir“, sagt Costel. „Doch alles, was Renault mir zahlt, sind lumpige 1030 Lei.“ Gewerkschaftsmann Iordache springt ein: „Das sind 278 Euro. Ein Zehntel von dem, was die Kollegen in Frankreich verdienen.“ Außerdem, sagt er, würde an 3000 der Arbeiter nur der Mindestlohn gezahlt: 160 Euro. „Was kostet ein Liter Milch in Deutschland?“, fragt Costel. In Rumänien sind es 1 Euro 20.
In den vergangenen Jahren sind die Preise in Rumänien explodiert. Im Jahr 2004 brauchte eine dreiköpfige Familie durchschnittlich noch 160 Euro für den Lebensunterhalt. Im Januar 2008 waren es schon 245 Euro, Tendenz weiter steigend. Für „vollkommen gerechtfertigt“ hält der bekannteste Ökonom des Landes, Ilie Serbanescu, deshalb den Streik.
Die Rumänische Agentur für Auslandsinvestitionen dagegen warnt, dass der Ausstand das investorenfreundliche Image des Landes beschädigen könnte. 119 Millionen Euro habe Dacia wegen des Streiks bisher verloren. Die Arbeiter sägten am Ast, auf dem sie sitzen. Tatsächlich habe beispielsweise Nokia sein Werk ja nur deshalb von Bochum nach Rumänien verlegt, weil der Handyhersteller hier nur 200 Euro Lohn zahlen muss und die Infrastruktur vom Staat bezahlt bekam. Wollen die Dacia-Arbeiter, dass das Kapital einfach weiter ostwärts zieht, über die Grenze nach Moldawien? Der Reifenhersteller Continental hat schon angekündigt, einen erfolgreichen Streik künftig bei Entscheidungen zu berücksichtigen. Auch Ford und Daimler überprüften ihre Investitionen, heißt es.
„Wir sind Europäer wie du auch“, sagt Costel. Und es seien ja nicht nur die Löhne, derentwegen er so wütend sei. Alle 60 Sekunden haben Costel und seine Kollegen im vergangenen Jahr einen Logan zusammengebaut. In diesem Jahr sollen es laut Firmenleitung fast doppelt so viele werden. Das geht nicht nur durch Neueinstellungen, sondern auch, weil in Costels Arbeitsvertrag keine Normen fixiert sind. Mal baue er 57 Autos am Tag, dann 75. Der Aufpasser eines privaten Sicherheitsdienstes stehe in der Fabrik immer hinter ihm und registriere jede Bewegung. Iordache spricht vom „Stress-System“, das der französische Fabrikchef eingeführt habe. Auf den Streik der Arbeiter reagierte der mit einem offenen Brief: „Vor dem Hintergrund, dass Renault Werke in Marokko, Indien und Russland eröffnet, gefährden eure Forderungen die Zukunft der Fabrik.“
67 Euro mehr Lohn hat Dacia den Arbeitern zuletzt angeboten, statt der geforderten 148. „Die machen sich über uns lustig“, sagt Costel. Sein Kollege drängt zum Aufbruch, die Busse hupen. Eine halbe Stunde fährt Costel zu seinem Heimatdorf auf einem Nachbarhügel. Wenn er ankommt, wird er seine Halbschuhe gegen Gummistiefel tauschen und mit seiner Frau und drei Töchtern zum kleinen Familienacker laufen. Mit langstieligen Hacken wollen sie den Boden für das Ausbringen der Kartoffeln vorbereiten. Der Industriearbeiter Costel wird dann wieder zu dem Bauer, der sein Vater schon war. Ein Auto hat der Autobauer nicht, und aus dem Leuchter im Wohnzimmer hat er alle Glühbirnen bis auf eine rausgeschraubt.
Gewerkschaftsmann Iordache steht noch eine Weile rauchend vor der Fabrik. „Es hat lange gedauert“, sagt er, „bis die Arbeiter die kommunistische Mentalität abgelegt haben, dass oben entschieden und unten gehorcht wird.“ Er zieht einen Zeitungsartikel aus der Jackentasche. Er habe den Arbeitern vorgelesen, wie die deutschen Lokführer das Land lahmgelegt hätten. Das habe ihnen imponiert. Und natürlich die Zahlen, die sprächen für sich. „150 Millionen Euro Gewinn hat die Dacia-Fabrik 2007 gemacht“, sagt Iordache.
Tatsächlich produziert Dacia, einst für seine unförmigen Rostkisten verlacht, mit dem Logan einen Goldesel für Renault. Beim Rennen um Osteuropa mussten die Franzosen 1990 Volkswagen den Vortritt bei Skoda in Tschechien lassen. Neun Jahre später aber griffen sie bei Dacia zu. Renault erwarb nicht nur eine Fabrik, sondern eine Marke mitsamt Markt, immerhin dem zweitgrößten Osteuropas. Die Strategie: Man wollte einen einfachen, robusten Familienwagen für die aufstrebenden Länder in Osteuropa, Asien und Lateinamerika bauen. Möglichst billig sollte er sein. Also entließ man zuerst 17 000 der 29 000 Arbeiter; und ersetzte dann die verrotteten Produktionslinien aus den 60er Jahren gegen ausgediente französische Produktionslinien aus den 80ern. Sie wurden gestrichen und geölt und „sahen aus wie neu“, erinnert sich ein Arbeiter.
Dann präsentierte die Entwicklungsabteilung mit dem kantigen Logan zwar keine Schönheit, aber ein funktionales und geräumiges Auto. Man kann die Lampen noch selbst auswechseln, und in den Kofferraum passt ein Schwein – kein unwichtiges Verkaufsargument in einem Land, in dem ein Drittel der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebt. Weil man aber wegen der alten Maschinen immer noch relativ viele Arbeiter brauchte, ließen sich die angestrebten Produktionskosten von 5000 Euro nur durch Niedrigstlöhne erzielen. Darunter leiden zwar heute Costel und seine Kollegen, doch die Strategie zahlte sich aus: Dacia erreichte in Rumänien einen Marktanteil von über 30 Prozent. Und auch in Westeuropa macht der Logan dem Clio und dem Megane aus dem Mutterhaus Konkurrenz. Bei Renault geht schon die Angst vor der Kannibalisierung um.
Iordache zieht ein letztes Mal an der Zigarette, bevor er wieder zu Verhandlungen mit der Firmenleitung ins Werk eilt. „Wir gewinnen das Ding. Die finden doch sonst niemanden.“ In Rumänien gibt es kaum Facharbeiter mehr, etwa zwei Millionen sind wegen der schlechten Löhne schon ins Ausland gegangen, vor allem nach Italien und Spanien. Die Arbeitslosenquote liegt bei etwa fünf Prozent. So kommt es, dass heute schon in der rumänischen Textilindustrie Moldawier und Chinesen arbeiten.
„Die Entwicklung ist alarmierend“, sagt Ökonom Serbanescu. „Wenn die internationalen Konzerne Rumänien weiter erpressen, werden wir eine Bananenrepublik.“ Rund 500 Staatsbetriebe sind in Rumänien seit 1989 privatisiert worden. Ausländisches Kapital strömt ins Land, um von den zweitniedrigsten Löhnen und dem niedrigsten Unternehmenssteuersatz in der EU – 16 Prozent – zu profitieren. Doch nur eine Minderheit der Rumänen profitiert davon. Auf dem Rückweg vom Werk rast ein gelber Ferrari gefährlich nah an einem Pferdefuhrwerk mit einer sechsköpfigen Familie vorbei. Eine krumme alte Frau mit Holzwägelchen wird beim Überqueren der Straße von einem hupenden Porsche Cayenne fast überrollt. Überall sind Häuser von gigantischen Werbeplakaten und Leuchttafeln verdeckt: Coca-Cola, Calvin Klein, Vodafone, Toyota, Samsung. Die Fassaden dahinter aber sind grau wie seit Jahrzehnten, zeigen Risse und faulige Flecken.
„Wir sollten die Emotionen jetzt mal aus dem Spiel lassen.“ Liviu Ion bietet Kaltgetränke an und fragt, ob einem die rumänischen Frauen gefielen. Der Kommunikationsdirektor von Dacia hat zum Gespräch in die schicke private Businessuniversität inmitten der düsteren Kreisstadt Pitesti geladen. Liviu Ion, 43, Designerhemd, Manschettenknöpfe, blanke Lederschuhe, nennt die Arbeiter „Kollegen“. Renault würde „den Kollegen“ ja gerne mehr zahlen, sagt er. „Aber Rumänien ist das ärmste Land Europas.“ Und dann zeichnet er hektisch Kurven und Linien auf ein Blatt Papier, um zu zeigen, dass Dacia trotz der guten Zahlen die Löhne nicht verdoppeln könne, weil man seit 1999 eine Milliarde Euro investiert habe, Wertberichtigungen in Höhe von 60 Millionen Euro ausstünden und man konkurrenzfähig bleiben müsse. Die Demonstrationen der Arbeiter nennt Ion eine „gute Show“. Alle Rumänen wollten leben wie die Westeuropäer, sagt er. „Das geht vielleicht in 30 Jahren.“ Aber jeder Rumäne könne heute essen und reisen.
Vor Dacia hat Ion im rumänischen Außenministerium gearbeitet, dann beim Europarat. Dass der Streik den rumänischen Wirtschaftsboom mit sieben Prozent Wachstum gefährde, glaubt er nicht. Denn in einem Punkt stimmt er dem Ökonomen Serbanescu zu: Selbst wenn sich die Löhne in Rumänien verdoppelten, wären sie immer noch niedriger als in Polen und die Arbeiter immer noch qualifizierter als in Bangladesch.
Einen Tag nach dem Treffen meldet sich Gewerkschaftsmann Iordache: „Schon gehört?“ Die Arbeiter in Rumäniens größter Stahlfabrik, der Mittal Steel Galati, die zum indischen Lakshmi-Imperium gehört, würden einen Streik vorbereiten. Und die Kollegen im südrumänischen Craiova, deren Fabrik gerade von Ford gekauft wurde, unterstützten die Forderungen der Dacia-Arbeiter. „Ich glaube, es geht aufwärts“, sagt Iordache.