Copacabana: Geschichte eines Überfalls

Copacabana: Geschichte eines Überfalls

Mist, was mache ich hier?! Als die barfüßigen Jungs aus der Dunkelheit auftauchen, erinnere ich mich an die Warnung: Unter keinen Umständen nach Sonnenuntergang an die Copacabana gehen. Niemals!

(Foto: Hank Leclair)

Und nun sitze ich bei Mondschein im Sand, fünf Meter vor mir die Brandung, 250 Meter hinter mir die Promenade. Die Jungs schlendern durch den Sand, sie sind vielleicht 18 Jahre alt, sehnig. Sie tragen knielange Shorts, haben dürre Oberlippenbärtchen.

Die Copacabana, das berühmteste Strandviertel der Welt, ist in den letzten Jahren zu einem Räuberparadies verkommen. Besonders auf Touristen haben es die immer brutaleren Jugendlichen abgesehen. „Filestücke“ nennen sie die Reisenden, die ahnungslos die Promenade entlang flanieren, am Strand liegen oder mit einer Prostituierten aus einem der Nachtclubs stolpern. Ein T-Shirt-Händler bietet bereits Hemden mit Aufschrift an: „Ich habe mein Herz in Rio verloren… und meine Uhr, meine Kamera und mein Portemonnaie.“

Doch man hat die Warnungen nie richtig ernst genommen. Die Schönheit der Copacabana und die hässlichen Berichte wollten nicht zusammen passen. Um 17 Uhr geht in Rio im Juni die Sonne unter. Es ist Winter, was angenehme 18 bis 28 Grad bedeutet. Der Strand leert sich dann. Doch man sitzt noch mit einer Freundin im Sand, fühlt sich sicher, man überblickt ja alles. Flutlichter tauchen die Promenade und Teile des Strandes in ein diffuses Licht. Ein Fußballspiel ist noch im Gange, die Eisverkäufer sitzen auf ihren Kühlkisten. Das Areal wird videoüberwacht.

Die beiden Jungs schauen herüber, kommen zügig auf einen zu. Sie fragen nach der Uhrzeit. Noch bevor man eine Antwort geben kann, haben sie schon Messer gezogen und zischeln irgendwas. Er reißt an der Umhängetasche. Die Attacke löst eine Abwehrreaktion aus: ein Schlag gegen den Angreifer. In der Tasche befindet sich eine Woche Recherchearbeit und eine Kamera. Der andere Junge springt von hinten auf einen drauf. Es gibt Gerangel im Sand, bis einer der beiden mit erhobenem Messer über einem kniet und schreit: „Ich stech’ Dich ab!“ Hinter ihm nimmt man in einiger Entfernung die Freundin wahr, die nach Hilfe schreit.

Die Handgriffe der Diebe sind nun schnell und geübt. In die Brusttasche, in die Socken, ein kurzer Risse an der Kette, an der das Portemonnaie befestigt ist. Auf die Bitte, den Notizblock da zu lassen, reagieren sich nicht. Sie rennen am Wasser entlang und werden von der Dunkelheit verschluckt.

Wie in Trance wandelt man zur Promenade, etwa 150 Meter entfernt. Dort sitzt ein Verkehrspolizist und isst ein Eis. Per Funkgerät ruft er die „Tourist Police“. Die Einheit ist vor sechs Jahren gegründet worden und patrouilliert die Touristenattraktionen der Stadt. Rio de Janeiro gehört heute zu den gefährlichsten Orten der Welt, doch wenigstens ihren Besuchern möchte man den Eindruck von Sicherheit vermitteln.

Ein Wagen hält, vier Polizisten schlendern herbei. Das erste, was sie interessiert ist: „Wie viel war die Kamera wert?“ Als sie die Schnittwunde am Arm sehen, fragen sie ob man ins Krankenhaus wolle. Man verneint, ein Pflaster würde ausreichen. Doch sie haben keine Erste Hilfe-Kästen dabei. Sie fahren mit einem längs zum Strand entlang. Vielleicht sehe man ja einen der Diebe, wie er die Straße überquere, um zurück in seine Favelas zu kommen. Wenn die Diebe es bis in die Armenviertel schaffen, die hinter der Copacabana die steilen Hügeln emporwachsen, sind sie sicher. Es gibt dort keinen Staat. Die Favelas werden von Drogengangs beherrscht, nur Spezialkommandos der Polizei wagen sich hinein.

Der Wagen hält bei einem Palmenhain, die Polizisten sagen, man solle dort mal suchen. Die Diebe würden Dinge wegschmeißen, die für sie keinen Wert hätten. Eine Taschenlampe hat keiner der Beamten dabei, und sie helfen auch nicht bei der Suche. Da tauchen fünf Jungs auf, Badeshorts, barfüßig. Einer fragt nach der Uhrzeit. Die Antwort, dass man schon ausgeraubt worden sei, bringt sie zum Lachen. Sie bilden einen Halbkreis. Da kommen die Polizisten gelaufen und fassen einen der fünf, vielleicht vierzehn Jahre alt. Er hat ein Messer in der Badehose. Sie leuchten ihm mit ihren Handys ins Gesicht, er kriegt eine Ohrfeige und einen Tritt in den Hintern.

„Die Polizisten haben kein Interesse, Diebe zu fassen“, sagt Anabel. Sie ist Pressefotografin, aber sie will nicht, dass ein Foto mit ihr in der Zeitung erscheint. Ebenso wenig möchte sie ihren vollen Namen öffentlich machen. Sie arbeitet für ein Boulevardblatt, in dem täglich nachzulesen ist, wie gefährlich Rio ist. Die 34-Jährige fotografiert täglich Schießereien oder das, was übrig bleibt: Leichen, Blut, Einschusslöcher. Oder sie versucht auf dem Friedhof, Bilder von weinenden Angehörigen zu machen.

Sie kommt dann mit lässig auf den Hüften sitzenden Jeans auf den Friedhof gerauscht und schiebt sich die Sonnenbrille in die langen roten Haaren. Beim Begräbnis zweier junger Männer, die von der Polizei bei einem Gefecht mit Drogendealern erschossen wurden, steht sie zwischen den Gräbern und wartet auf die Trauergemeinde. Man kommt ins Gespräch. Sie erzählt, dass sie in ihrer Freizeit die andere Copacabana dokumentiere. Die Copacabana, die nicht auf den Postkarten zu sehen ist. Die Copacabana, die mit 25000 Bewohnern pro Quadratkilometer einer der dichtbesiedeltsten Orte des Planeten ist.

Und einer der gefährlichsten Rios: Mehrere Tausend bewaffnete Überfalle auf Passanten, Hunderte Attacken auf Omnibusse, Dutzende Bandenangriffe auf Wohnblocks und Morde, so liest sich die Statistik für die Südzone Rios. „Es ist eine düstere Copacabana, voller Armut und Verbrechen“, sagt Anabel. Sie erzählt von Familien, die jede Nacht am Strand schlafen und von Babys, die im Sand zur Welt kommen. Und dass sie die Nase voll habe.

Vom Apartment eines Freundes fotografiert sie die Überfälle, die zur jeder Tag- und Nachtzeit stattfinden. Sie kennt die meisten der Jungs, die beteiligt sind. „Sie tarnen sich als Surfer, viele schnüffeln Kleber oder koksen und sie schlagen schnell zu. Aber für die Touristenpolizei bedeuten sie nur Überstunden.“ Die Beamten verdienen etwa 200 Euro im Monat, und haben meistens Zweit- und Drittjobs. Nicht selten sind sie selbst kriminell. Erst kürzlich wurden zwei Polizisten beim Versuch festgenommen, Geld von zwei Reisenden zu erpressen, denen sie vorher Drogen angedreht hatten.

Anabel möchte ihre Bilder in einem Buch veröffentlichen oder sie ausstellen. Aber sie will nicht falsch verstanden werden. „Die Wurzeln der Gewalt sind sozialer Art. Diese Jungs haben keine Perspektive. Das einzige, was sie in den Favelas lernen, ist sich irgendwie durchs Leben zu schlagen.“

Die Uniformierten fahren einen nach Hause, den Reisepass holen. Sie scherzen. Doch sie verstummen schlagartig, als sie die beiden Wagen stoppen. Sie ziehen ihre Waffen und stehen mit Pistolen im Anschlag in der kleinen ruhigen Gasse. Die Motoren der Waggen lassen sie laufen. Eine nervöse Beamtin fordert einen auf, schnell zu machen, das Haus liege neben einer Drogenroute: „Die Banditen haben Schnellfeuergewehre, wir haben nur Knarren.“

Auf einer Wache in der Nähe des Strandes Ipanema nimmt ein blasser Zivilpolizist den Fall auf. „Bist Du verrückt, Dich zu wehren?“ Er zieht an der Zigarette. Er sagt, man sei der dritte Fall in dieser Nacht. „Ein ruhiger Abend.“ An der Wand hängt ein Cartoon, dessen Pointe lautet: „Und die Polizei soll geradebiegen, was Kirche, Staat, Eltern und Wirtschaft verbocken?“ Der Polizist fragt er, wie lange man sich schon kenne. Die Freundin ist schwarz, die Farbe der Armut, er hält sie offensichtlich für eine Prostituierte, die einen in eine Falle gelockt habe.

Für weitere Fragen, etwa nach der Videoaufzeichnung, hat er eine Telefonnummer parat. Dort wird man am nächsten Tag von einer Pressesprecherin aufgefordert, eine E-Mail zu schreiben. Eine Antwort kommt nie. Doch als ein Artikel über den Überfall im Lokalteil von „O Globo“, der größten Tagesszeitung Rios, erscheint, erhält man umgehend eine Einladung ins Hauptquartier der Militärpolizei an der Copacabana. „Es sei wohl eine interne Untersuchung der Polizei“, sagt Anabel. „Erzähl nichts Schlechtes über die Polizisten. Sie wissen, wo Du wohnst.“ Der Ratschlag wird von Freunden und Kollegen wiederholt.

Das Polizeigebäude sieht aus, als ob es schon lange kein Handwerker mehr von innen gesehen habe. Dunkle Gänge, Linoleumbeläge, milchige Fenster, eine ungesäuberte Toilette. In einem Zimmer spielen drei Polizisten Karten. Eine dicke, blonde Beamtin fragt dann noch einmal ab, was schon im Polizeibericht steht. Sie sagt: „Wir haben nur 10 Polizisten, um den 4,5 Kilometer langen Strand zu überwachen.“ Auf die Kameras angesprochen, zuckt sie mit den Schultern.

In Ipanema, dem Nachbarstrand der Copacabana, brach vor wenigen Tagen eine Massenpanik aus, als eine Diebesbande mehrere Badegäste umzingelte. Die Szene war gestellt, bildet Teil einer Episode in einer Telenovela. Doch Rios Bürgermeister Cesar Maia drohte, die Dreharbeiten zu verbieten. Solche Bilder könnten den Tourismus schädigen, sagte er. Der Tourismus ist die zweitwichtigste Einnahmequelle Rios. In der Hauptsaison halten sich täglich mehr als 200.000 Besucher in der Stadt auf. Tatsächlich aber haben Überfalle, wie der in der Filmszene schon stattgefunden. Auf die zunehmende Gewalt angesprochen sagte Maia: „In anderen Städten können sich Besucher frei bewegen. Wir bieten einen schwerbewachten Korridor an. Dort ist es auch nicht schlimmer als woanders.”