Argentiniens späte Wahrheiten

Argentiniens späte Wahrheiten

Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, hatte Cesar Castillo zum ersten Mal mit 13. Da überragte er seinen Vater schon um einen halben Kopf. Wieso war er so groß und sein Vater so klein?

Und warum hatten seine Eltern dunkle Haut und er selbst helle? Wieso hatten sie glatte Haare, und auf seinem Kopf wuchsen Korkenzieherlocken? Je genauer Cesar hinsah, desto mehr Unterschiede fand er. Er hatte das Gefühl, hier nicht zu Hause zu sein. Er suchte nach etwas, das er nicht klar definieren konnte.

Was Cesar zusätzlich irritierte, war die Geschichte mit dem ehemaligen Armeeleutnant Hernán Tetzlaff, der drei Stockwerke unter den Castillos wohnte.

Cesars Mutter putzte bei ihm. Bis herauskam, dass Tetzlaff die Tochter eines während der Militärdiktatur ermordeten Paares großzog. Da begannen Cesars Fantasien: Bin ich etwa auch der Sohn von Guerilleros? Doch den Mut, sich Klarheit zu verschaffen, hatte er nicht. Er fühlte sich seinen Eltern gegenüber schuldig, weil er sie nicht liebte und weil er Zweifel hatte.

„Wenn man die Wahrheit unter den Teppich kehrt, dann wirft er Falten“, sagt Horacio Pietragalla. Der 28-Jährige ist noch größer geworden, er hat damals mit 13 nicht aufgehört zu wachsen, er misst fast zwei Meter. Horacio Pietragalla ist Cesar Castillo. Seit zwei Jahren kennt er seinen wirklichen Namen. „Adriano und Lina Castillo haben mich 26 Jahre betrogen“, sagt er. „Mein Leben war eine Lüge.“

Er sitzt auf einer Schreibtischkante im Büro der „Großmütter der Plaza de Mayo“ im Zentrum von Buenos Aires. Seit Pietragalla seine „Identität zurückerhalten“ hat, wie er es nennt, arbeitet er hier in der Presseabteilung. Die „Großmütter“ sind neben den „Müttern der Plaza de Mayo“ Argentiniens bekannteste Menschenrechtsorganisation. Sie suchen nach Kindern, die während der Militärdiktatur in Argentinien entführt wurden, nachdem man ihre Eltern hatte verschwinden lassen. Die „Großmütter“ schätzen, dass es 400 Kinder sind, die zwischen 1976 und 1983 ihrer Eltern beraubt wurden und dann meist in Militärfamilien groß wurden. 80 dieser Kinder haben die „Großmütter“ dank einer Datenbank mit den Erbgutanalysen der Eltern bisher wiedergefunden. Pietragalla war Nummer 75.

„Solange auch nur ein Jugendlicher in Argentinien zweifeln muss, wer er wirklich ist, so lange müssen alle zweifeln“, sagt Rosa Roisinblit. Die 85-Jährige ist Vizepräsidentin der „Großmütter“ und sitzt einige Türen von Pietragallas Büro entfernt. Der Flur ist mit einer Fotocollage aller wiedergefundenen Enkel bedeckt. Roisinblits Tochter wurde 1978 von den Militärs mitgenommen, hochschwanger. Sie tauchte nie wieder auf. Doch ihren Enkel lernte Roisinblit vor vier Jahren kennen, er war in einem Folterzentrum der Armee geboren worden.

Warum die Militärs die Babys ihrer Opfer nicht auch umbrachten? „Das frage ich mich auch manchmal“, sagt Roisinblit. „Die Methode des Regimes war die Verbreitung von Ungewissheit und Angst. Sie ließen 30000 junge Menschen verschwinden, und sie stahlen ihre Babys, um auch noch die zukünftige Generation auszuschalten.“ Seit Mitte der 90er Jahre erst diskutiert in Argentinien eine breitere Öffentlichkeit über die entführten Kinder. „Die Entführten waren erwachsen geworden und begannen, Fragen zu stellen“, sagt Roisinblit. „Und es gab den rechtlichen Aspekt.“ In den 80er Jahren hatte das argentinische Parlament zwei Amnestiegesetze verabschiedet, die niederrangige Militärangehörige vor Strafverfolgung schützten. In den 90er Jahren begnadigte Präsident Carlos Menem dann hochrangige Offiziere. Kindesentführung war jedoch von der Amnestie ausgenommen. So blieb der argentinischen Menschenrechtsbewegung eine Möglichkeit, die Militärs doch noch belangen zu können. Das Verfahren gegen General Jorge Videla, den ersten Anführer der Militärjunta, wurde neu eröffnet. Videla lebt heute unter Hausarrest.

Derzeit berät das oberste Gericht Argentiniens über die von der Regierung von Néstor Kirchner beschlossene Aufhebung der Amnestiegesetze. „Die argentinische Gesellschaft ist heute eher bereit, sich mit ihrer dunklen Vergangenheit auseinander zu setzen“, glaubt Rosa Roisinblit, „es mussten 30 Jahre vergehen.“

Damit Cesar Castillo den Mut aufbrachte, sich der Wahrheit zu stellen, bedurfte es der Liebe. Als er 26 war, traf er Magali. Sie drängte ihn, sich endlich an die Nationale Kommission für das Recht auf Identität zu wenden. Cesar zögerte, aber Magali ließ nicht locker und machte sich selbst auf die Suche. Schließlich stieß sie im Internet auf ein Foto. Eine schlanke Frau war darauf zu sehen, die einen Säugling im Arm hält. Ihr langes schwarzes Haar ist zurückgekämmt, sie blickt ernst in die Ferne. „Sie sieht dir sehr ähnlich“, sagte Magali, „sie hat die gleichen traurigen Augen.“ Wenige Tage später rief Cesar das „Zweifel-Telefon“ der „Großmütter“ an und vereinbarte einen Termin zur Blutabnahme.

Der Tag, an dem er das Ergebnis des Tests erfuhr, war der 11. März 2003. Die „Großmütter“ luden ihn in ihr Büro ein und eröffneten ihm, dass die Frau auf dem Foto tatsächlich seine Mutter war. „Die Großmütter hatten einige Brüder und Schwestern meiner Eltern versammelt“, sagt Pietragalla. „Ich hatte das Gefühl, dass ich sie mein ganzes Leben lang gesucht hatte.“ Von den „Großmüttern“ erfuhr Pietragalla auch, dass seine Eltern Montoneros waren, Mitglieder der linksperonistischen Jugendbewegung, die Anfang der 70er Jahre Anschläge gegen Sicherheitskräfte und Militärs verübte. „Mein Vater wurde Ende 1975 von den Todesschwadronen der Antikommunistischen Allianz Argentiniens entführt. Er war damals 28 Jahre, so alt wie ich jetzt.“

Nach dem Verschwinden von Pietragallas Vater tauchte seine Mutter unter. Knapp zwei Wochen vor dem Militärputsch am 24. März 1976 brachte sie in einem Versteck außerhalb von Buenos Aires einen Sohn zur Welt und nannte ihn Horacio, nach seinem Vater. Als sie im August an einem Geheimtreffen der Montoneros teilnahm, war das Militär informiert. Keiner der Montoneros verließ das Treffen lebend. Den fünf Monate alten Horacio nahmen die Soldaten mit.

Nach dem Massaker wurde Horacio dem Armeeleutnant Hernán Tetzlaff überlassen, der das Kind an Lina Castillo gab und ihm falsche Papiere besorgte. „Das ganze Haus wusste Bescheid“, sagt Pietragalla, „aber niemand traute sich, mir etwas zu sagen.“

Adriano und Lina Castillo wurden wegen Kindesentführung zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt, der Leutnant Hernán Tetzlaff starb in Haft. Pietragalla hat seinen Adoptiveltern gegenüber nie Zorn empfunden. „Ich habe eher Mitleid. Sie haben nie die befreiende Kraft der Wahrheit begriffen.“