Gustavo Dudamel sprintet durch die katakombenartigen Gänge unter dem Parque Central, einem weißgrauen Hochhausriegel im Zentrum von Caracas. In den oberen Etagen befinden sich Wohnungen und Büros, im Erdgeschoss und Keller liegen Geschäfte, Restaurants, Mehrzweckräume. Eben noch saß Gustavo im zwölften Stock, tief gebeugt über eine Partitur, die in drei Tagen uraufgeführt werden soll. „Ist erst halb fertig“, stöhnt er.
Dann hat er zehn Minuten auf den Aufzug warten müssen, der irgendwo stecken geblieben war. Gustavo bleibt an einem Wasserspender stehen, wäscht sich den Schweiß von der Stirn, rennt weiter: Rolltreppen runter, um zahlreiche Ecken, im Zickzack durch belebte Einkaufspassagen.
Schließlich macht er vor einer grauen Doppeltür halt. Die Uhr zeigt kurz vor sechs. Als Gustavo eintritt, sitzen 200 Musiker schlagartig still. Er geht zum Dirigentenpult, ruft „Guten Abend, dann wollen wir mal mit Tschaikowskis Fünfter. Elan bitte!“
Gustavo Dudamel ist gerade 21 Jahre alt geworden und Dirigent der Jungen Philharmonie Venezuelas. Er hat Korkenzieherlocken, die beim Musizieren wild wippen, er trägt eine randlose Brille auf der Nase und ein immerwährendes Lächeln auf den Lippen. In Venezuela ist Gustavo so etwas wie ein Klassik-Star. Experten rechnen sein Ensemble zu den besten Jugendorchestern der Welt. Jede Nacht kurz vor 0 Uhr ist er im staatlichen Fernsehen beim Dirigieren der Nationalhymne zu sehen. Und seit einer Aufsehen erregenden Deutschlandtournee im Herbst 2000 kennt man Gustavo und sein Orchester auch außerhalb Südamerikas. In Münchens Philharmonie tanzten die Zuschauer damals zu Bernsteins Mambo auf den Stühlen. In der Berliner Philharmonie winkten ältere Damen wie beim Stierkampf mit Taschentüchern. Die in bunte Trainingsanzüge gekleideten Musiker auf der Bühne herzten sich anschließend, als hätten sie die Fußballweltmeisterschaft gewonnen.
Auch im Keller des Parque Central ist er spürbar, dieser rhythmisierte Enthusiasmus. Die Kontrabassisten tanzen mit ihren Instrumenten Salsa, der Junge an der Pauke schwingt die Hüften als habe er eine karibische Steeldrum vor sich. „Das ist Klassik mit Feuer im Arsch“, erklärt der Wachschutzmann, der eigentlich die umliegenden Geschäfte bewachen soll. Tatsächlich ist in Venezuela in den letzen drei Jahrzehnten ein System von Jugendorchestern entstanden, das auf der Welt seinesgleichen sucht. Die staatliche Stiftung FESNOJIV, die das System unterhält, hat mehr als 150 Musikzentren mit 150.000 Schülern im ganzen Land aufgebaut. Diese „Nucleos“ genannten Musikschulen existieren in allen Städten, in den abgelegensten Bauerndörfern, in Indiogemeinden. Manchmal bestehen sie aus mehrstöckigen Betonbauten mit schalldichten Proberäumen; woanders wird zwischen Rinderweide und Maisacker geprobt. Jedem Kind, das in einem der „Nucleos“ auftaucht, wird ein Instrument in die Hand gedrückt und es erhält kostenlosen Unterricht. Fast eine halbe Million Jugendlicher haben das System bisher durchlaufen. Gustavo und seine jungen Philharmoniker sind nur die leuchtende Spitze dieser Bewegung. „Es gibt einen simplen Grund“, versucht Gustavo den Erfolg dieser Klassikrevolution zu erklären: „Wir integrieren arme Kinder, Straßenkinder, Kinder ohne Familien. Nimm beispielsweise Lenard, der hat vier Menschen auf dem Gewissen. Aber den wirst du später sehen. Oder triff dich mal mit Gladis.“
Gladis ist eine etwas dickliche Mulattin. Sie wohnt auf einem der wild bebauten Hügel, die das Zentrum von Caracas umstellen. Als Gladis 14 Jahre alt war, wurde sie von ihrem Vater missbraucht, von der Mutter verstoßen. Sie lebte monatelang auf der Straße, schnüffelte Alleskleber und ernährte sich von Hundefutter. Dann hört sie, dass es in ihrem Viertel ein Orchester gab. „Die Tuba hat mich gleich fasziniert“, erzählt sie, „und sie hat mich gerettet. Meine Freunde von früher können mich mal”. Gladis wohnt wieder bei ihrem Vater, hat sich mit ihm versöhnt. „Wenn ich denke, ich müsste wieder was nehmen, spiele ich einfach Tuba. Das ist jetzt meine beste Freundin“, sagt sie.
„Schau, wir betrachten Mädchen wie Gladis als potenzielle Musiker, nicht als Problemfälle.“ Gustavo beherrscht nicht nur die Rolle des Dirigenten. Auch den Sozialarbeiter gibt er perfekt. Musikalität stecke eben nicht in den Genen, sagt er, sondern gedeiht, wenn man den Nährboden schafft, auf dem sie gedeihen kann. Wer sich etwa nach Petarre wage, ein für seine Bandenkriege berüchtigtes Armenviertel, solle sich nicht wundern, wenn durch die fensterlosen Öffnungen der schnell zusammengebauten Backsteinhäuser Mahler oder Mozart töne. „Klassische Musik ist in Venezuela keine Frage der Klasse oder Rasse mehr“, so Gustavo.
Wenn man mit dem jungen Dirigenten durch das kleine koloniale Zentrum von Caracas läuft, geht es zu wie bei einer Audienz. Alle hundert Meter muss er Bekannte grüßen, wird umarmt und geküsst. Geboren wurde Dudamel 1981 in der Stadt Barquisimeto, auch er stammt aus einfachen Verhältnissen. Als er vier Jahre alt war, nahm sein Vater ihn zu einer der Musikschulen mit, die damals überall im Land für benachteiligte Kinder gegründet wurden. „Ich verdanke diesem System alles“, sagt Dudamel. Schnell erkannte man dort sein Talent, und schon mit 17 Jahren durfte er das größte Jugendorchester Lateinamerikas leiten. Es wurde zum Geheimtipp. Denn die Truppe spielte auch komplizierte Stücke mit mehr Rhythmus, mehr Spaß, mehr Feuer und karibischem Elan, als es Konzertgänger in Europa und den USA gewohnt waren.
In Venezuela wiederum ist ein richtiges Heer aus Musikern entstanden. “Wir erkennen uns auf der Straße an unseren Instrumentenkoffern”, sagt Dudamel. Es herrsche eine Art Komplizenschaft, ähnlich wie bei einer Straßengang. Und so ist es nicht verwunderlich, dass jeder Bürgermeister in Venezuela mittlerweile anfragt, ob FESNOJIV nicht auch solch eine Musikergang in seinem Ort gründen könne. Im vergangenen Jahr wurde das Engagement der Stiftung mit der Verleihung des Alternativen Friedensnobelpreises in Stockholm gekrönt.
Es war der bisherige Höhepunkt einer Geschichte, die vor 27 Jahren inmitten von Autoabgasen begann. Aus Mangel an Räumen gründeten elf Musiker das erste Jugendorchester Venezuelas in einer Tiefgarage in Caracas. Kopf der Gruppe war José Antonio Abreu, Dirigent, Mathematiker und Ökonom. Er ist heute Vorsitzender von FESNOJIV, die im 42. Stockwerk von Parque Central ihre Büros haben. Abreu, der von Mitarbeitern in Abwesenheit „Papa Dios“ („Gottvater“) genannt wird, sitzt in einem vor der gleißenden Sonne abgedunkelten Raum, umgeben von Fotos, die ihn mit Guiseppe Sinopoli, dem Papst, und Hugo Chávez, dem Präsidenten Venezuelas, zeigen. „Ich empfand es 1975 als Skandal“, erzählt der kahlköpfige Abreu, „dass in den beiden Sinfonieorchestern meines Landes fast ausnahmslos Europäer und US-Amerikaner spielten. Heute ist es umgekehrt. Venezuela ‚exportiert’ Musiker in die Orchester des Nordens.“
Für Aufsehen sorgte der Fall des heute 19-jährigen Lenard. Als er neun Jahre alt war, beging er seinen ersten Mord. Mit 14 hatte er drei weitere Menschen umgebracht. Er kam in ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche. Als FESNOJIV dort ein Orchester aufbaute, entschied sich Lenard für die Klarinette. Er schaffte es bis ins Jugendorchester von Caracas. Nun macht der höfliche junge Mann eine Lehre als Zimmermann. Jede Woche kehrt er ins Heim zurück, um mit den anderen Kindern zu proben. „Ohne die Musik wäre ich heute tot“, sagt er, „besser ’ne Klarinette in der Hand als ’ne Knarre.“ Als Gustavo die Probe im Keller des Parque Central beendet, schalten seine Musiker ihre Handys wieder ein, einige Mädchen ziehen Lippenstift nach. Gustavo ruft noch mal in den Saal, dass die Berliner Philharmonie, in der bald wieder ein Auftritt ansteht, für Musiker so etwas sei wie das Maracanã-Stadion für Fußballer. Aber das hören nur noch die wenigsten. Gustavo hat es eilig. Im zwölften Stock wartet seine Partitur auf ihn.