Man möchte zum Pathos neigen. Zum Nachruf auf einen Lebenden, zum Abgesang auf eine Epoche, die gar nicht vorbei ist.
Ein halbes Jahrhundert hat Fidel Castro die Geschicke Kubas (und beizeiten der Welt) bestimmt. Autoritär und eifersüchtig, aber auch pflichtbewusst und diszipliniert. Castro forderte von seinen Landsleuten „Sozialismus oder den Tod“, aber er wusste auch aufs Kilo genau, wie groß die Zuckerernte ausgefallen war.
Nun will der 81-Jährige, der wahrscheinlich an Unterleibskrebs leidet, nicht mehr. Ein anderer – Castro sagt „ein Jüngerer“ – soll es machen, Präsidentenamt und Oberkommando der Streitkräfte übernehmen.
„Es wäre gegen mein Gewissen, wenn ich eine Verantwortung übernähme, die mehr Hingabe erfordert, als ich physisch imstande bin zu leisten”, schreibt Castro und fügt an: „Ich meine das ganz undramatisch.“ Soll heißen: Geistig stehe ich noch voll im Saft. Und: Natürlich ist mein Abgang ein Drama.
Castros Leben und Wirken ist eine Jahrhundertgeschichte, schon heute Stoff für Filme, Romane und Songs. 1926 als Sohn spanischer Einwanderer geboren, schrieb er als Zwölfjähriger einen Brief an US-Präsident Franklin D. Roosevelt – „My good friend Roosevelt“ – und bat um „ten dollars bill green american“. Mit Mitte zwanzig organisierte er den Sturm auf eine Kaserne des Diktators Batista. Er wurde verhaftet, exiliert und kehrte 1956 auf der Jacht „Granma“ zurück, um drei Jahre später Batista zu stürzen und Kuba in den ersten sozialistischen Staat Amerikas zu verwandeln. Er hat neun US-Präsidenten überlebt, darunter Kennedy, Nixon und Reagan. Er ist ungezählten Attentatsversuchen entgangen, hat eine Invasion zurückgeschlagen und fast einen dritten Weltkrieg mitausgelöst. Er hat ehemalige Kampfgefährten einkerkern lassen und seine Truppen im postkolonialen Krieg um Angola verheizt.
Kuba ist unter Castro aber in Lateinamerika auch zum Vorzeigeland in Sachen Bildung und Gesundheit geworden. Gleichzeitig hat er das Land wirtschaftlich zugrunde gerichtet. Noch Generationen werden darüber streiten, ob daran das US-Embargo oder die diktatorische Planwirtschaft schuld waren. Fest steht: Castro ist zur Projektionsfläche für Kommunistenhasser und Revolutionsromantiker geworden. Andere sehen in ihm nur noch die tattrige Parodie des Revolutionärs. Wenn Che Guevara heute für die erotische Verheißung von Aufbegehren und Umsturz steht, dann verkörpert Castro die neidische Verteidigung und kleinliche Verwaltung der Revolution. Wäre Kuba keine Insel, hätten sich die meisten Kubaner wohl schon davongemacht.
Dennoch ist er für viele Lateinamerikaner eine Lichtgestalt geblieben. Denn jeder Tag seiner Existenz ist ein gefühlter Sieg über die USA. Dieses Latino-Ressentiment gegenüber dem mächtigen Nachbarn im Norden speist sich nicht nur aus dessen hegemonialer Politik, sondern ebenso aus einem tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex. Castro hat den Gringos widerstanden, und steht deshalb heute in einer Reihe mit Freiheitskämpfern wie Simon Bolivar oder Emiliano Zapata. Wie tief diese Heldenverehrung das Bewusstsein der lateinamerikanische Linken prägt, kann man an Castros jüngstem Adepten ablesen: Hugo Chavez geriert sich in Venezuela zumindest stilistisch wie Castros Enkel.
Und nun? Für die Kubaner, deren Durchschnittsalter bei 36 Jahren liegt, ist Castro eine Art Vaterfigur. Er wird kaum mit den Entbehrungen des Alltags in Verbindung gebracht. Auf der anderen Seite wissen die meisten sehr wohl, wem sie ihr Bildungs- und Gesundheitssystem verdanken. Dank Chavez’ Öllieferungen erleben sie einen leichten Aufschwung. Castros Bruder Raul, der seit 18 Monaten die Geschäfte führt, hat eine wirtschaftliche Öffnung versprochen. Geht Kuba den chinesischen Weg? Fest steht, dass es wohl nicht zu einem Machtvakuum kommen wird, in das die USA und exilkubanische Revanchisten stoßen könnten. Castro war klug genug, seinen Rückzug langsam und geordnet zu vollziehen. Wie ein ums Erbe besorgter Patriarch, der weiß, dass sein Herbst gerade begonnen hat.