Paulo César Martins Vieira kommt zehn Minuten zu spät zum Treffpunkt. Er habe noch telefonieren müssen, um den Besuch anzukündigen, sagt er. Bei wem? – „Bei den Traficantes“, den Drogenhändlern.
Er sagt das, als ob es das Normalste der Welt sei. Es ist Samstagmorgen, die Sonne brennt und der 50-jährige Schwarze trägt kurze Hosen, Slipper und ein kanariengelbes T-Shirt.
Paulo steht am Ausgang des Tunnels, der den Traumstrand Ipanema mit dem Reichenviertel São Conrado verbindet. Auf dem Berg über dem Tunnel schiebt sich ein backsteinrotes Häusermeer zusammen: Rocinha, die größte Favela Brasiliens. Atemberaubend sieht das aus, wie die kleinen unverputzten Bauten den Berghang hoch kriechen und den dunklen Wald wegdrücken. Auf einer Fläche von 80 Hektar, das sind rund 55 Fußballfelder, drängeln sich Zehntausende dieser Kästen zusammen.
Dabei existiert Rocinha offiziell gar nicht. Die Favela ist auf keiner Karte eingezeichnet. Vielleicht weil man ihre Existenz am liebsten ungeschehen machen würde? Sobald man in Rio de Janeiro den Namen Rocinha erwähnt, kommen die Warnungen: „Pass bloß auf. Dort gelten andere Gesetze.“ Der Begriff Favela wird meistens mit Slum übersetzt. Doch “Stadt ohne Staat” würde besser passen. Den gibt es nämlich weder in Rocinha noch in einer der anderen 600 Favelas von Rio. Und so hat sich dort eine Parallelgesellschaft mit Millionen von Menschen gebildet, die ihren eigenen, nur schwer durchschaubaren Regeln folgt. In Brasilien ist die Favela zum Synonym für alle Übel des Landes geworden: Armut, Gewalt, Rechtlosigkeit. In Rocinha selbst sieht man das freilich ganz anders.
„Gut, dass Du mich angerufen hast“, sagt Paulo, der möchte, dass man ihn Amendoim nennt: Erdnuss. „Den ersten Besuch in Rocinha macht man nicht alleine. Aber wenn wir durch sind, kennt jeder Dein Gesicht.“ Amendoim ist in Rocinha wohl das, was man einen bunten Hund nennt. Schon am Eingang zur Favela, wo ein Markt mit Gemüse, Krebsen und Schweinehaxen tobt, wird er alle zehn Meter aufgehalten. Er schüttelt Hände, bekommt ein Stück Maniokkuchen angeboten, stellt einem den geschicktesten Surfer und den besten Sambasänger Rocinhas vor.
Doch Amendoims Popularität ist weniger darauf zurückzuführen, dass er der örtliche Kandidat der Partido Comunista für das Parlament in Brasilia ist. Vielmehr bekannt gemacht hat ihn der Auftritt in der Reality-TV Show „No Limite“. Dort wurde er von anderen Teilnehmern rassistisch beleidigt – und schied aus. Aber Rocinha hatte ein Gesicht bekommen und es war nicht die Fratze der Gewalt, sondern ein sympathisches Gesicht.
Die einzige Straße in Rocinha heißt konsequent Rua 1. Autos, Busse und Motorradtaxis kämpfen sich die steilen Serpentinen hinauf oder bremsen sich nach unten. Entlang der Straße gibt es Geschäfte, Restaurants, eine Bank, einen Juwelier, Internetcafés. „Hey, spielt ihr gerne Fußball?“, ruft Amendoim drei Jungs zu, die von einem Dach herunterspucken, „…dann hole ich euch Morgen früh ab.“ Rocinha wirkt wie eine ganz normale quirlige brasilianische Kleinstadt. Dann eine Öffnung zwischen zwei Häuserwänden. Dahinter ein Betontreppchen, das in die Tiefe stürzt. Amendoim schlüpft hinein. Die Luft wird kühl und feucht. Die Eingeweide der Favela. Es ist so eng hier, dass man nicht mal mehr die Arme ausstrecken kann. Rechts und links wachsen die Häuser vier, fünf Stockwerke in die Höhe.
Stolz zeigt Amendoim auf die dünnen weißen Plastikrohre, die lose auf der Erde liegen und in den Fenstern der Häuser verschwinden. „Die Wasserversorgung, die wir vor vier Jahren erstritten haben“, sagt er. Der Geruch nach Urin beißt in der Nase. In einem offenen Kanal neben der Treppe schießt Abwasser in die Tiefe, Ratten hocken daneben. So beengt muss es in den europäischen Städten des Mittelalters zugegangen sein.
Auf die Frage, wie viele Menschen in diesem Ameisenhaufen leben, präsentiert Amendoim eine einfache Rechnung: „Es gibt 60 000 Gebäude. In jedem leben durchschnittlich sechs Menschen. Macht 360 000.“ Doch Rios Stadtverwaltung kommt zu anderen Zahlen: „70 000“, sagt der Bürgermeister. Alle anderen Schätzungen liegen irgendwo dazwischen.
Als die „Wohnform der Zukunft“ bezeichnet der US-Soziologe Mike Davis die Favelas. Im Jahr 2020 werde die Hälfte der globalen Stadtbevölkerung in einer Favela wohnen, schreibt er in seinem neuen Buch „Planet of Slums“. Bereits heute lebt mehr als ein Drittel dort. Für Davis sind die Favela-Bewohner die Ausgestoßenen, für die das kapitalistische System keine Verwendung habe.
Doch in Rocinha nutzen sie jede Nische. Unter einer Treppe hat einer seine Schlüsselwerkstatt eingerichtet, zwängt sich auf zwei Quadratmeter, vor der Nase die Schleifmaschine. Gegenüber ein Friseursalon. Die Kundschaft sitzt auf dem Bett der Friseuse. Daneben eine Bar, der Wirt reicht Dosenbier durchs Wohnzimmerfenster. Etwas weiter hockt eine 19-jährige in der Haustür und wäscht Geschirr. Ihre beiden Kinder springen barfüßig durchs Abwaschwasser, das die Gasse hinunterfließt. Die junge Frau hustet und krümmt sich. Sie habe Tuberkulose, sagt sie. Die Krankheit ist hier unten wegen der schlechten Luft weit verbreitet.
Amendoim biegt links ab, dann nach rechts, eine Treppe hinunter und die nächste hinauf. Er findet sich spielend im Häuserlabyrinth zurecht. Obwohl die Favela ununterbrochen wächst. Täglich werden zwischen fünf und 15 neue Häuser oder Wohnungen gebaut.
Ana Maria de Souza lehnt sich mit einem Arm gegen ihr Haus am Rande Rocinhas. Dahinter beginnt tropischer Atlantikwald, wo Papayas wachsen und Äffchen kreischen. Vor ein paar Wochen ist ein morscher Baum auf Dona Anas Haus gefallen. „Das Haus hat nicht mal gewackelt“ sagt sie. Seit 15 Jahren baut Dona Ana dran: vier Etagen, ausgestattet mit Strom und fließendem Wasser. Das unterste Stockwerk vermietet sie für umgerechnet 150 Euro.
Der Bau ist Dona Anas ganzer Stolz und darüber, dass er am Anfang ihren kleinen Zeh kostete, lacht die kräftige Schwarze mit den grauen Locken heute: „Es war in der Grube für das Fundament. Ich wollte den ersten Pfeiler setzen. Er fiel mir auf den Fuß.“ Das war 1991, Dona Ana war 42 Jahre alt, hatte zwei Töchter und keinen Mann. Sie hat unbeirrt weitergebaut. Denn Dona Ana ist es gewohnt, Opfer zu bringen, auch wenn sie es selbst nie so formulieren würde.
Mit 19 Jahren verließ sie 1969 ihre Eltern und elf Geschwister, die im Hinterland Rios als Bauern lebten. Sie war eine von Hunderttausenden Brasilianern, die es damals nach Rio zog. Ana putzte Wohnungen, wusch Wäsche und verkaufte Hot-Dogs im Maracanã-Stadion. Sie wohnte damals in einem kleinen Zimmer ganz unten in Rocinha. Dann kam 1978 ihre erste Tochter Beatriz zur Welt und sechs Jahre später Luana. Es wurde eng in Anas Wohnung. „Eine Freundin nahm mich mit in den Wald, wo wir nach Feierabend rodeten“, sagt Dona Ana. „Illegal natürlich.“
Bis heute besitzt Dona Ana rechtlich gesehen gar kein Haus. Genauso wenig wie die anderen Bewohner Rocinhas. Der brasilianische Staat weigert sich, die Favelas anzuerkennen. Es würde bedeuten, dass er Verantwortung übernehmen und Kindergärten und Krankenhäuser bauen, dass er sich um Müllentsorgung und öffentliche Sicherheit kümmern müsste. Es ist, als ob die Favela und ihre Bewohner gar nicht existierten.
Dona Ana führt durch ihr Haus, an den Füßen eine rote und eine blaue Badeschlappe. Man stolpert ihr hinterher, über die viel zu hohen Türschwellen aus Beton. Die Wände sind feucht, die Fenster bestehen aus Durchbrüchen. Wenn es regnet stellt Dona Ana Pappe davor. In einem kahlen Zimmerchen hocken zwei Frauen, Beatriz und Luana, mit ihren drei kleinen Kindern. Außerdem wohnen unter Dona Anas Dach zwei Nichten und vier Großnichten. Sie balanciert eine schmale Holztreppe hinauf zum Dach. Dort steht sie nun zwischen trocknender Wäsche, Wassercontainern und Zementsäcken. Die Aussicht ist beeindruckend, geht aufs Meer, einen Golfplatz, in die Berge.
Plöztzlich steigt aus dem Häuserlabyrinth ein gelber Drachen empor, flattert lustig im Wind. Was wie ein Kinderspiel aussieht, ist der Einbruch der anderen Realität Rocinhas. Der Drachen ist ein Signal der Amigos de Amigos (ADA). Es ist eine der drei großen Drogengangs von Rio de Janeiro, sie beherrscht Rocinha seit zwei Jahren. Der Drachen bedeutet, dass eine Lieferung Stoff eingetroffen ist. Vorher war Rocinha in den Händen des Roten Kommandos, des Comando Vermelho (CV). Die ADA eroberte Rocinha in einer blutigen Invasion. Nun sinnt das CV auf Rache. Es geht um lukrative Absatzmärkte. Auch weil rund um Rocinha viele Reiche wohnen, die sich per Boten Drogen liefern lassen.
Der Aufstieg der Drogengangs in den Favelas von Rio begann in den siebziger Jahren. Der großartige Film „City of God“, der teilweise in Rocinha gedreht wurde, erzählt realistisch von dieser Entwicklung. „Am Anfang hatte ich Angst vor den Traficantes“ sagt Dona Ana. „Aber sie sind unsere Sicherheit.“ Tatsächlich dulden die Dealer in den Favelas keine Verbrecher neben sich. Wer stiehlt, bekommt eine Kugel in die Hand. Wer sich an Frauen vergeht, wird gefoltert und verbrannt.
Auf dem Weg nach unten kommt man an einer der Drogenverkaufstellen vorbei. Vier Jungs in Badeschlappen und ein Mädchen im Jogginganzug liegen auf der Motorhaube eines Autos. Sie sind zwischen 17 und 20 Jahren alt, in ihren fahlen Gesichtern steht Verachtung. Aus ihren Badeshorts ragen die Griffe von Revolvern. Auf dem Dach des Autos liegen kleine Tütchen mit Marihuana und Kokain. Einer der vier Jungs raucht eine Zigarette und fummelt am Ziellaser seines Sturmgewehrs aus US-Produktion herum. Ob man Fotos machen könne. Er schüttelt den Kopf. „Komm heute Nacht zum Baile Funk in die Sporthalle.“
Gegen zwei Uhr morgens füllt sich der Saal mit Jugendlichen. Aus riesigen Boxen dröhnt basslastige brasilianische Rapmusik. Der Baile Funk ist vor wenigen Jahren in den Favelas Rios entstanden. Die Texte drehen sich oft um Sex und Gewalt. Vor dem Saal ist ein Tischchen aufgebaut, wo neben Kaugummis auch Joints und Kokaintütchen zu Spottpreisen verkauft werden. Der Baile Funk ist von der ADA organisiert, der Eintritt beträgt ein Real, rund 40 Cent. Zwei Dutzend Jungs patrouillieren durch die Menge. Einer hat eine silberne Kalaschnikow, ein anderer eine Schrotflinte, man sieht Uzis und auch das G-3 Sturmgewehr von Heckler & Koch. Die Waffenträger sind von den Mädchen mit den knappsten Röcken umringt.
Deren Tanz ist bis zum Bersten sexuell aufgeladen. Sie sitzen in der Hocke, stützen die Hände auf die Oberschenkel und lassen die Hintern kreisen und auf und ab wippen. Fotos darf man weder von ihnen noch von den bewaffneten Jungs machen. „Es herrscht Krieg“, wird man von einem Jugendlichen mit Nickelbrille und Revolver angeraunzt.
Wie zur Bestätigung dringt die Polizei zwei Tage später in Rocinha ein, um ein gestohlenes Auto zu suchen. Doch es ist der 28. Geburtstag des ADA-Chefs, Antônio Bonfim, der sich Nem nennt. Die ADA fühlt sich provoziert. Bei einem Schusswechsel sterben zwei Männer. Der eine 17 Jahre alt, der andere 23.
Rocinhas Friedhof liegt im Stadtteil Botafogo, eine halbe Stunde von der Favela entfernt. Die Ruhestätte spiegelt die soziale Geografie Rios wider. Unten liegen die Reichen in aufwendig gestalteten Steingräbern, oben die Armen in der Erde unter Holzkreuzen mit Nummern. Als die Gräber zugeschüttet werden, brechen die Mütter der Jungs zusammen. Später erklären sie den Lokalreportern, dass ihre Söhne unschuldig waren. Die Presseleute glauben ihnen. Der Polizei sei ja noch weniger zu trauen als den Drogengangs.
Der Verkäufer in der Videothek in Rocinha tut geheimnisvoll. „Du weißt nicht, woher diese DVD stammt“, schärft er einem ein. Die DVD zeigt ein Motivationsvideo des Polizei-Sonderkommandos BOPE. Spitzname: Totenkopfeinheit. Zu Kampfszenen aus Rios Favelas dröhnt das Lied „Bullet in the Head“. Die Polizisten seilen sich von Helikoptern ab, rennen durch Häuserdschungel, ballern mit Maschinengewehren und tragen blutende Leichen wie Trophäen zu ihren Autos.
„Für die BOPE ist die Favela Feindesland“, sagt Eduardo Casaes. Er schreibt für die Zeitung „Rocinha Notícias“. Das 12-seitige Blatt existiert seit 2001, hat eine Auflage von 5000 Exemplaren und erscheint monatlich. „Unsere Aufgabe ist es, den Bewohnern Mut zu machen“, sagt er. „Es gibt Gemeinderadios, eine Sambaschule, soziale Initiativen, die schwer zu kämpfen haben. Aber das einzige, was nach draußen dringt, ist die Sache mit den Drogen. 99 Prozent der Menschen hier haben damit nichts zu tun.“ Der 38-Jährige lebt seit seiner Geburt in Rocinha, bewohnt heute eines der wenigen Mietshäuser. „Warum sollte ich wegziehen?“ fragt er. „Alle meine Freunde leben hier.“ Gefährlich sei es überall in Rio. „Doch um meine Tochter muss ich mir hier weniger Sorgen machen als an der Copacabana.“
Der Rückweg von Rocinha nach Ipanema führt über den Bergrücken. Dort geht die Favela schnell in einer besseren Wohngegend auf. Die Villen sind von hohen Mauern umstellt. Nach zehn Minuten ist man unten. Die Straßen sind sauber, die Menschen hellhäutig. Ein Shoppingcenter lädt ein, die neueste Sicherheitstechnik zu begutachten.