1523 Quadratkilometer Stadtfläche, 20 Millionen Einwohner, 16.500 Kilometer Straße und 325 Helikopterlandeplätze. Zu Besuch in der Welthauptstadt des Hubschrauberverkehrs.
Von Bernardo Gutiérrez (Übersetzung aus dem Spanischen: Philipp Lichterbeck)
Der sechssitzige Eurocopter AS350 B3 schießt knapp über die Wolkenkratzer hinweg. São Paulo sieht von oben aus wie ein aufgerissenes Maul: hunderttausende Zähne, mal spitz, mal klobig, mal pyramidenförmig. In den Schluchten dazwischen drängen sich Millionen von Autos. Daneben sind winzige Punkte auszumachen, die Fußgänger. Ab und zu kommt ein Park als grünes Fleckchen zum Vorschein. Dem Chaos dort unten versucht Caito Maia hier oben zu entkommen: „Ich fliege mit dem Helikopter, um sicher und schnell von A nach B zu kommen.“
Der Unternehmer ist gerade auf dem Weg zum Einkaufszentrum Tatuapé im Osten São Paulos, in dem eins seiner Geschäfte liegt. „Ich besuche jeden Tag zwölf Filialen“, sagt Maia. „Früher, mit dem Auto, habe ich nur vier geschafft.“ Der 41-Jährige verkauft Sonnenbrillen, seine Marke „Chili Beans“ ist brasilianischer Marktführer. „Hätte ja nie gedacht, dass ich mal einen Hubschrauber brauche.“ Doch wirklich erstaunt klingt Maia nicht, eher kokett. Auf dem Landeplatz von Tatuapé gibt derweil ein Mann in einem orange leuchtenden Mantel Signale. Der Hubschrauber schwebt nieder, perfekte Landung. Reisezeit: zehn Minuten. Keine Staus, kein Stress.
São Paulo ist das Finanz- und Wirtschaftszentrum Südamerikas. Auf 1523 Quadratkilometern Stadtfläche teilen sich mehr als 20 Millionen Einwohner rund 16 500 Kilometer Straße. Männer wie Maia aber bewegen sich in São Paulo längst nicht mehr per Limousine oder Taxi durch die Stadt. Zeitverschwendung, sagen sie – der wahnsinnige Verkehr, die Staus, die Kriminalität, die Entführungen, die Überfälle. Lieber fliegen Unternehmer, Manager und Politiker heute mit dem Hubschrauber. Der Luftbetrieb hat solche Ausmaße erreicht, dass São Paulo inzwischen als Hauptstadt des Helikopterverkehrs gilt, manche nennen die Stadt „Helikopteropolis“. Es gibt 325 Hubschrauberlandeplätze in São Paulo, mehr als 400 Flüge pro Tag, rund 500 Helikopter (nur die New Yorker Flotte ist größer) und pro Jahr rund 70 000 Starts und Landungen. Nicht im Himmel lebt die brasilianische Oberschicht, aber doch knapp darunter. Für sie ist São Paulo ein Ort, wie ihn einst der Schriftsteller Italo Calvino in seiner Erzählung „Die unsichtbaren Städte“ beschrieb: „Die Bewohner kommen nur noch selten auf die Erde“, heißt es da über die fiktive Stadt Baucis. „Sie haben oben alles Notwendige und ziehen es vor, nicht hinabzusteigen.“ Oben, damit könnte das exklusive Wohnviertel Jardins gemeint sein, das Caito Maia gerade im Hubschrauber überquert: Zwischen Swimmingpools und Gartenanlagen sieht man immer wieder „Helipontos“, Landeplätze für Hubschrauber.
Hilton-Hotel, 28. Stock. Ein Mann zieht seine Bahnen im Swimmingpool, Brustschwimmer. Hinter ihm verliert sich die Skyline von São Paulo im Horizont. Im verglasten Kraftraum darunter stärkt die Unternehmerin Mônica Mendes ihre Rückenmuskulatur, die Stadt liegt ihr vertikal und schwindelerregend zu Füßen. Sie wird metaphorisch: „Ich schaue hinab und streichle das Geheimnis des Lebens. Hier oben fühle ich mich wie eine Göttin.“ Es klingt, als wolle Mendes nie mehr nach da unten. Höhe, das ist Erhabenheit, Überlegenheit.
Der Schwindel hat inzwischen auch die rasant wachsende brasilianische Mittelschicht erfasst, die sich lieber nach oben als nach unten orientiert. Immer mehr Frauen in São Paulo wünschen sich, zur Hochzeit im Helikopter vor der Kirche niederzuschweben, ganz in Weiß, wie ein Engel. Am Valentinstag sitzen händchenhaltende Pärchen in den Hubschraubern. Ein Pilot erzählt, wie er einmal einen verstoßenen Ehemann vor den Balkon von dessen Frau flog. Über den Bordlautsprecher posaunte der Liebeskranke Schnulzen in den Himmel. „Die Frau stand wie hypnotisiert auf dem Balkon“, erinnert sich der Pilot. Ein anderer berichtet von Geschäftsleuten, die per Hubschrauber zu Fußballspielen fliegen, um den Anpfiff nicht zu verpassen. Legendär ist die Anekdote von dem Unternehmer, der seine Sekretärin aus dem Kururlaub anrief und bat, ihm per Hubschrauber eine Pizza zu schicken – er halte die Diät nicht mehr aus.
Manche Kinder der Oberschicht werden heute im Helikopter zu den Geburtstagsfeiern ihrer Klassenkameraden geflogen. Auch der Weihnachtsmann reist in São Paulo immer seltener mit dem Rentierschlitten, stattdessen schwebt er im „Bell“ ein. Das Modell UH-1 des US-Herstellers „Bell Helicopters“ war der Standardhubschrauber der US-Armee im Vietnamkrieg. Einst stand das charakteristische Geräusch seiner Rotorblätter für Verstümmelung und Tod, heute klingt es in den Ohren verwöhnter Oberschichtkinder nach dem Schlittenglöckchen des Weihnachtsmanns.
Stadtviertel Jardins, Allee Alameda Santos. An der Rezeption des Renaissance-Hotels warten Gästemanager Nelson García und Sicherheitschef Eduardo Silva. „Die Kunden kommen im Helikopter an und checken im 23. Stockwerk ein, wo wir mittlerweile eine separate Rezeption haben“, sagt García. „Es ist nicht mehr nötig, dass sie herunter ins Erdgeschoss kommen“, ergänzt Nelson stolz. Unterwegs im Fahrstuhl zum Heliponto auf dem Dach zählt Nelson prominente Hubschrauber-Gäste der vergangenen Jahre auf: Brasiliens Ex-Präsident Lula da Silva schwebte ein, ebenso diverse Formel-1-Piloten. Die Präsidentensuite im Hotel-Renaissance ist ab 19 000 Reais die Nacht zu haben (rund 8400 Euro), die Landung auf dem Dach kostet 500 Reais (220 Euro). Nelson und Eduardo schlendern über das große aufgepinselte „H“ in der Mitte des Landeplatzes. Der Himmel über São Paulo hängt voller Wolken, es ist diesig, es nieselt. Weiter entfernt verliert sich der feine Regen im Smog. „Wir haben hier drei bis vier Landungen am Tag“, sagt Silva.
Auch die Militärpolizei benutzt den Heliponto des Hotels, wenn sie in der Gegend zu tun hat.
– Hallo, Kontrolle São Paulo?
– Wir hören!
– Frequenz Papa Tango Yankee Tango Vítor, komme aus Alphaville, Ziel Serra Delta Serra November, Sektor drei.
Ein fensterloser Raum im Flughafen Congonhas von São Paulo. Rund 20 Personen konzentrieren sich auf Computerbildschirme: schwarzer Hintergrund, zitternde Punkte, gelbe Linien. Zu hören sind die verrauschten Stimmen von Hubschrauberpiloten. Die Lotsen rufen Anweisungen in ihre Mikrofone:
– Positiv. Freier Einflug. Bleib auf der Route Pinheiros bis Serra Delta Serra November.
Hauptmann Luiz Cláudio Ribeiro, seit vielen Jahren Hauptverantwortlicher für die Flugzone São Paulo, die dem Kommando der Luftwaffe untersteht, läuft durch den Kontrollraum. Er ist der Chef des einzigen Fluglotsenteams der Welt, das urbane Helikopterflüge überwacht. „Mit der Zunahme des Hubschrauberverkehrs stieg natürlich das Risiko von Zusammenstößen“, sagt Ribeiro. Seit 2004 kontrolliert sein 50 Mann starkes Team den Luftraum über einer Fläche von gut 100 Quadratkilometern. Sie überwachen das Finanzzentrum der Stadt und deren wichtigsten Wohngegenden. Es seien immer rund fünf Hubschrauber gleichzeitig in der Luft, sagt Ribeiro, zu Spitzenzeiten sogar bis zu zwölf. Deswegen habe man 21 Flugkorridore in verschiedenen Höhen über São Paulo geschaffen, durch die die Helikopter rattern. Es sind die Luftverkehrsschneisen der Stadt.
Trotz solcher Regelungen gehen nicht wenigen Einwohnern von São Paulo die Hubschrauber langsam auf die Nerven. In deutschen Städten wird gegen Autobahnen und Bahnhöfe demonstriert – in São Paulo haben die Bürger gerade erstritten, dass zwischen 23 und 6 Uhr keine Privathubschrauber mehr das Stadtzentrum überfliegen dürfen. Außerdem gilt im Umkreis von 300 Metern um Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser nun ein Landeverbot.
Felipe Diniz hält diese Einschränkung für eine massive Behinderung des Hubschrauberverkehrs. Als Sprecher der Assoziation der Brasilianischen Helikopterpiloten (Abraphe) hält er nicht viel von den neuen Gesetzen, sie machen ihn regelrecht wütend. „Die Helikopter sind unersetzlich in dieser chaotischen Stadt“, sagt Diniz. „Wie soll es ohne sie gehen?“ Tatsächlich haben von den 215 Helipontos im Stadtzentrum 129 keine staatliche Erlaubnis. Sie wurden einfach auf Hausdächern eingerichtet, ein Helikopter braucht zum Landen nicht mehr Platz als ein Tennisfeld.
Um Entgegenkommen zu signalisieren, hat Diniz’ Assoziation nun vorgeschlagen, die Mindestflughöhe für Helikopter auf 200 Meter zu erhöhen. Doch das Rathaus erwidert: „Die Auflagen schützen die Interessen der Mehrheit und schaffen Ordnung.“ Ironischerweise ist natürlich der Bürgermeister selbst einer derjenigen, die am stärksten auf den Helikopter angewiesen sind. 15 Stunden verbringt er jede Woche in der Luft.
Bremsen, kuppeln, beschleunigen, bremsen. Das Taxi kriecht über den Asphalt, Ziel ist das luxuriöse Einkaufszentrum Daslu. Umtost von einem Schwarm knatternder Motorräder geht es wie in Zeitlupe durch die verstopften Straßen. Zu Stoßzeiten steht der Verkehr in der Stadt auf einer Strecke von 63 bis 67 Kilometern still. Hochgerechnet auf den Monat sind das rund 1500 Kilometer Stau, also stehende Autos auf einer Strecke von Berlin bis Marseille. São Paulo, Stadt der Exzesse.
Der Eingang zum Einkaufszentrum Daslu gleicht einem Palast. Die Kunden fahren im Audi, Mercedes, Porsche oder BMW vor. Es werden Jachten angeboten, es gibt eine große Golfabteilung und sündhaft teure Parfüms. Nirgendwo auf der Welt ist der Reichtum so ungerecht verteilt wie in Brasilien, daran hat auch die erfolgreiche Sozialpolitik von Ex-Präsident Lula da Silva nichts geändert. Die Abteilung für Herrenbekleidung wirbt mit dem Foto eines schwarzen Hubschraubers.
Im Heliponto-Warteraum des Kaufhauses stehen kitschige Skulpturen, an den Wänden hängen Gemälde. Juliana Vazella, eine Angestellte der Firma Heli-Solutions, die den Landeplatz betreibt, erzählt, der Wartesaal werde oft als Konferenzraum genutzt. „Die Leute kommen im Hubschrauber an, diskutieren ein paar Stunden und fliegen weiter.“ Für Geschäftspartner von außerhalb stehe schon am Flughafen der Heli bereit. Nach dem Termin gehe es per Hubschrauber ins Hotel, Landung auf dem Dach, Check-in, Übernachtung, Abflug vom Dach, zurück zum Flughafen. Ein Geschäftstag ganz ohne Bodenkontakt.
Ohne seine vielen Reichen, die ihren Reichtum gerne zur Schau stellen, wäre São Paulo nicht zur Helikopterhauptstadt geworden. 75 Prozent aller Luxusgüter, die in Brasilien verkauft werden, werden hier abgesetzt, 1,5 Milliarden Dollar dafür ausgegeben. Rund 60 Prozent der reichsten brasilianischen Familien leben laut Sozialatlas in São Paulo. Die Beratungsfirma Skyscraper City listet die Stadt seit Jahren ganz oben, wenn es um die unternehmerfreundlichsten Orte Lateinamerikas geht.
Selbst die internationale Finanzkrise hat Helikopteropolis nichts anhaben können. Die Zahl der Flüge steigt weiter. Wer sich kein eigenes Gerät leisten kann, gründet Fluggemeinschaften, Heli-Sharing sozusagen. Mitglieder zahlen einen Monats- oder Jahresbeitrag und können den Helikopter anfordern, wann immer ihn sonst niemand benutzt. Das relativ kleine Modell „Esquilo“ (Eichhörnchen) kann man zum Beispiel für 2,2 Millionen US-Dollar im Jahr mieten. Wird er von zehn Personen genutzt, zahlt jeder nur noch 220 000 Dollar.
Ein bisschen größer ist der RH 44, das Modell von Comandante Hamilton. Der 50-Jährige ist einer der bekanntesten Piloten der Stadt. Er fliegt einen sogenannten News-Copter, unter dessen Rumpf eine Fernsehkamera angebracht ist. Die Bilder, die Hamilton damit aufzeichnet, werden von den wichtigsten Fernsehsendern der Stadt übertragen. „Mit meinem News-Copter bin ich immer der Erste, der Live-Bilder liefert“, sagt der selbstständige Pilot. Er hat Gefängnisaufstände, Brände, Verfolgungsjagden und gigantische Staus gefilmt. „Ohne Live-Berichterstattung aus der Luft könnten die Nachrichtensender einpacken“, sagt er.
Der Himmel ist klar, türkisblau. Hamiltons Hubschrauber zieht über das Millionärsviertel Alphaville hinweg, das an eine Favela grenzt. Riesige, von hohen Mauern umgebene Villen stehen unmittelbar neben Hütten aus unverputzten Steinen. Nur von oben kann man die Linie genau erkennen, an der sich Arm und Reich scheiden.
Was treibt sie an, die Helikoptermenschen? Vielleicht sind sie wie die Bewohner der Wolkenstadt Baucis aus Italo Calvinos Erzählung. Dort starren die Menschen den ganzen Tag mit Fernrohren hinab auf die Erde. Sie berauschen sich an ihrer eigenen Abwesenheit.